Früher wurden Menschen mit Handicap am Stuttgarter Hauptbahnhof vom Zug bis zum Bus oder zur Stadtbahn gebracht. Jetzt beschränkt sich diese Hilfe nur noch auf das Bahnhofsgelände.
Menschen mit Beeinträchtigungen werden am Stuttgarter Hauptbahnhof seit September nicht mehr bis zur Stadtbahn oder zum Bus begleitet. Durch immer mehr Anfragen bei der Umstiegshilfe beschränkt sich die Deutsche Bahn (DB) inzwischen nur noch auf den eigenen Bahnhofsbereich. Das bedeutet: Immer wieder stranden Menschen, beispielsweise blinde Menschen, am Bahnhofsausgang und sind auf sich allein gestellt, um den öffentlichen Nahverkehr zu erreichen.
Änderungen durch S21: Der Weg zur Arbeit wird zur Herausforderung
Einer, der plötzlich im September am Bahnhofsausgang gestrandet ist, ist Torsten Steimle. Er arbeitet bei der Stadt Stuttgart. Zwei bis drei Mal die Woche muss er am Hauptbahnhof von der Bahn aus Murrhardt (Rems-Murr-Kreis), wo er lebt, in die Stadtbahn umsteigen. Da er komplett blind ist, hat er früher immer die Umstiegshilfe der DB gebucht. Das sei eine große Hilfe gewesen, denn durch lange Laufwege über die Stuttgart-21-Baustelle ist das Umsteigen für Steimle besonders schwer. "Doch im September wurde mir von der Mobilitätsservice-Zentrale der Bahn mitgeteilt, dass die Begleitung ab sofort am Bahnhofsausgang endet", erzählt er.
Für Steimle ist nun am Ende des fast 500 Meter langen Baustellentunnels am Bahnhofsvorplatz oder auf der anderen Seite am Reisezentrum Schluss. Von hier aus müssen Menschen wie Torsten Steimle alleine weiter kommen. "Das bringt mir nichts", sagt Steimle.
"Denn ich kenne ja den weiteren Weg zur Stadtbahnlinie nicht." Einzige Ausnahme ist die S-Bahn. Da diese auch zum Bahnhofsbereich der Bahn zählt, werden dorthin Menschen nach wie vor begleitet. Und auch in Bereichen des anschließenden öffentlichen Nahverkehrs lauern noch viele Fallen für blinde Menschen, beispielsweise kreuz und quer abgestellte E-Scooter.
Blindenverband: Stuttgart 21 erschwert den Umstieg
Dass Menschen wie Torsten Steimle auf einmal Schwierigkeiten haben, sei kein Einzelfall, erklärt Winfried Specht, Beauftragter für Barrierefreiheit des Blinden- und Sehbehindertenverbandes Württemberg. "Das ist eine Erschwernis, wenn ich ab einem bestimmten Punkt mir selbst überlassen bin. Dann brauche ich Ortskenntnisse, wie ich weiterkomme."
Der Stuttgarter Hauptbahnhof mit der Stuttgart-21-Baustelle sei ohnehin ein schwieriger Ort für Blinde oder Menschen mit Sehbehinderungen. "Dann haben sich die Wege wieder verändert, dann muss man sich wieder neu zurechtfinden." Zwar sei die DB immer bemüht, Menschen mit Einschränkungen zu helfen und trete auch regelmäßig in den Austausch mit dem Blindenverband. Aber "eine Baustelle ist und bleibt eine Herausforderung", so Specht.
Deutsche Bahn begründet Änderung mit "Kapazitätsgründen"
Auf SWR-Anfrage erklärt die DB, dass sich der Service der Bahn, beim Umsteigen zu helfen, auf den Bahnhof konzentriert. "Kern dieses Services ist die Betreuung bei Umstiegen zwischen Fern-, Regional- und S-Bahn-Zügen", heißt es in einer schriftlichen Mitteilung. Die Begleitung zur Stadtbahn oder zum Bus habe man früher aus Kulanzgründen mit angeboten. Allerdings sei die Nachfrage zur Unterstützung beim Ein-, Aus- und Umsteigen kontinuierlich gestiegen, sodass man aus Kapazitätsgründen sich auf den eigentlichen Kern des Angebots konzentrieren müsse. "Wir bedauern, dass wir trotz Anpassungen bei den Servicekräften sowie der Unterstützung des Shuttle-Services im Südbereich keinen Spielraum mehr für eine kulante Angebotsausweitung haben", heißt es.
Sowohl Winfried Specht als auch Torsten Steimle betonen, wie dankbar sie sind, dass es die Umstiegshilfe überhaupt gibt. "Das sind ganz wichtige Mitarbeiter für uns", erklärt Winfried Specht. Er sei froh, dass die Umstiegshilfe nicht komplett abgeschafft wurde, wie es vor einigen Jahren mal zur Diskussion stand. Dennoch bleibe der Stuttgarter Hauptbahnhof eine ständige Herausforderung für Menschen mit Handicap. Und dass die Hilfe jetzt nicht mehr bis zum Bahnhofsvorplatz reicht, erschwere die Situation.
Zwei kurzfristige Lösungen für den Arbeitsweg ab dem Hauptbahnhof
Sowohl der Blinden- und Sehbehindertenverband Württemberg wie auch die DB verweisen aber auf die Bahnhofsmission. Diese würde ebenfalls Menschen beim Umsteigen begleiten und könnte Blinde oder Menschen mit anderen Einschränkungen bis zum Bus oder der Stadtbahn bringen. "Aber die Bahnhofsmission hat eingeschränktere Zeiten", sagt Torsten Steimle. "Ich steige auf dem Weg zur Arbeit morgens um 6 Uhr um. Die Bahnhofsmission ist erst ab 7:30 Uhr da." Außerdem braucht die Bahnhofsmission bei der Anmeldung mehrere Tage Vorlaufzeit, da sie ihre ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter organisieren muss. Bei der Umstiegshilfe der Bahn reicht eine Anmeldung am Vortag.
"Ich habe mir eine Trainerin geholt, die den Weg mit mir geübt hat", erklärt Steimle. Jetzt kann er die Strecke von den Gleisen bis zum Bahnhofsvorplatz und runter zur Klett-Passage und zur Stadtbahn alleine bewältigen. Die Frage ist nur, wie lange. "Wenn sich etwas verändert, muss ich den ganzen Weg wieder neu lernen." Und am Stuttgarter Hauptbahnhof ändert sich regelmäßig etwas, denn durch die Stuttgart-21-Baustelle bleibt selten ein Laufweg länger als ein Jahr so, wie er ist.
Erschwertes Umsteigen wird noch mindestens zwei Jahre andauern
Die Herausforderungen werden bleiben, solange der neue Tiefbahnhof noch nicht in Betrieb ist. Bis dahin heißt es weiterhin Umsteigen im Dauerprovisorium. Die DB hält offiziell am Eröffnungstermin im Dezember 2025 fest. Doch eine SWR-Recherche hat ergeben, dass der Termin nicht mehr zu halten ist. Wann tatsächlich die Zeit der komplizierten Umstiege vorbei ist, bleibt also abzuwarten.
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