Bürokratische Hindernisse

Kindergrundsicherung: Hilfsgelder kommen in BW oft nicht ans Ziel

Stand
Autor/in
Iris Volk

Schultaschen, Hefte, Stifte - vor Ferienende stehen in vielen Familien Einkäufe für den Schulanfang an. Für arme Kinder gibt es Unterstützung. Doch die kommt oft nicht an.

Sportsachen, Schulranzen oder Taschenrechner können schnell ins Geld gehen - für arme Familien stellt der Gesetzgeber deshalb ein Schulbedarfspaket bereit, als Teil des größeren Bildungs- und Teilhabepakets. 174 Euro stehen pro Schulkind und Jahr für Schulsachen bereit. Der Betrag wird seit 2019 jährlich angepasst.

Doch das Geld kommt längst nicht bei allen betroffenen Familien an, zeigt eine Analyse des Sozialministeriums Baden-Württemberg von 2021. In Zukunft soll die Kindergrundsicherung alles einfacher machen. Bis dahin sind die Kommunen und die Jobcenter selbst gefragt.

Was genau die Kindergrundsicherung ist, erklärt SWR Aktuell-Host Niklas Feil in diesem Video bei Instagram:

Laut der Untersuchung des Sozialministeriums nimmt rund ein Drittel der anspruchsberechtigten Familien im Land das Schulbedarfspaket nicht in Anspruch (Stand: 2021). Andere Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket - wie Mittagsverpflegung oder Lernförderung - werden sogar noch seltener abgerufen.

Schlechtes Zeugnis für Baden-Württemberg

Im Vergleich zu anderen Bundesländern steht Baden-Württemberg nach dieser Analyse besonders schlecht da. Die Verfassenden vermuten, "dass das nicht nur am fehlenden persönlichen Bedarf bei den Kindern liegen kann, sondern auch strukturelle Gründe eine Rolle spielen."

Als Erklärung dafür, warum Geld so oft nicht abgerufen wird, nennt die Analyse an erster Stelle den bürokratischen Aufwand - und zwar sei der nicht nur für die Antragsstellenden, sondern auch für die Sachbearbeitenden eine Hürde. Das zweitgrößte Problem: mangelnde Information.

Zuviel Bürokratie

Vom Zuviel an Bürokratie bekommt einen Eindruck, wer selbst versucht herauszufinden, von wem und wie das Bildungs- und Teilhabepaket genutzt werden kann.

Berechtigt ist zum Beispiel, wer wenig Geld verdient und Anspruch auf Wohngeld hat. Über die Möglichkeit, das Bildungs- und Teilhabepaket und damit auch das Schulbedarfspaket zu nutzen, werden die Betroffenen schriftlich informiert. Das setzt voraus, dass die Angeschriebenen ein Behördenschreiben von Anfang bis Ende lesen und verstehen - und mit einem Begriff wie "Leistungen für Bildung und Teilhabe nach § 6b Bundeskindergeldgesetz" etwas anfangen können.

Ist das geschafft, ist die nächste Herausforderung, sich an die richtige Stelle zu wenden. Das kann bei Wohngeldberechtigten je nach Kommune die Wohngeldbehörde sein - oder das Jobcenter. Dort müssen Berechtigte einen Antrag stellen.

Wer arbeitslos ist und Bürgergeld bezieht, hat es vergleichsweise einfacher: Wenn ein Schulkind oder mehrere im Haushalt leben, ist das Jobcenter zuständig, und bewilligt den Anspruch auf das Schulbedarfspaket automatisch.

(Fast) alles aus einer Hand

In Tübingen bleibt den Berechtigten eine Odyssee von Behörde zu Behörde erspart. Alles, was mit dem Bildungs- und Teilhabepaket zu tun hat, wird im Landkreis von einer Stelle bearbeitet. Aus Sicht von Thomas Frisch aus der Abteilung Soziales des Landratsamts Tübingen hat das gleich mehrere Vorteile: Es schaffe eine leichtere Übersicht für die Menschen, ermögliche eine bessere Vernetzung mit Multiplikatoren - zum Beispiel der Schulsozialarbeit - und trage zu effizienteren Verwaltungsabläufen bei.

Eine Ausnahme gibt es dennoch: Wer Schulbedarf im Rahmen des Bürgergelds bekommt, für den ist in Tübingen weiterhin das Jobcenter zuständig. Das sei für Familien und Verwaltung am einfachsten und pragmatischsten, sagt Frisch.

Auch in Stuttgart bemüht man sich um Vereinfachung: Aus dem Jobcenter Stuttgart heißt es, alle Bildungs- und Teilhabeleistungen kämen hier aus einer Hand.

Mehr Information in Tübingen und Stuttgart

Der Landkreis Tübingen versucht auch, die Kommunikation mit den Empfängerinnen und Empfängern zu verbessern. Thomas Frisch glaubt zum Beispiel, dass Hinweise auf die Berechtigung in Bescheiden leicht übersehen werden können.

Tübingen arbeite deshalb auch mit Infoflyern und versuche, die Betroffenen direkt zu informieren - in Beratungsstellen, mit Hilfe von Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeitern oder auch über Lehrkräfte. "Der Landkreis Tübingen verfolgt das Ziel, möglichst viele anspruchsberechtigte Menschen mit den Bildungs- und Teilhabeleistungen zu erreichen", sagte Frisch dem SWR.

In Stuttgart versucht das Jobcenter, die Berechtigten möglichst direkt zu erreichen: über eine Hotline, einen Flyer und Beratungsangebote. Auch über Schulen und Kitas würden die Informationen verteilt.

Vorbild für die Kindergrundsicherung?

Haben der Landkreis Tübingen und die Stadt Stuttgart damit im Kleinen schon umgesetzt, was die Bundesregierung jetzt deutschlandweit mit der Kindergrundsicherung erreichen will? Im Eckpunktepapier aus dem Bundesfamilienministerium steht zu lesen, die Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket und das Schulbedarfspaket sollten künftig "einfacher zu beantragen sein, um eine höhere Inanspruchnahme zu ermöglichen". Die Kommunikation und Organisation soll demnach in Zukunft über ein digitales Kinderchancenportal ablaufen. Bis das Portal steht, sollen aber bestehende kommunale Lösungen - wie in Tübingen und Stuttgart - weiter möglich sein.

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Knackpunkt Kommunikation

Der Landkreis Tübingen und das Jobcenter Stuttgart haben bereits eigene Ideen entwickelt, um den Zugang zu Hilfsgeldern zu verbessern. "Die zuständigen Stellen in den Kommunen tun viel, um die Menschen zu erreichen", sagt der Tübinger Frisch. Die Untersuchung des Sozialministeriums von 2021 habe auf bestehende Hindernisse hingewiesen. Die Gegenstrategien - dass Flyer eingesetzt werden oder die Menschen direkter informiert werden - seien unter anderem in den Präventionsnetzwerken gegen Kinderarmut entstanden.

Kein Überblick über Verbesserungen

Ob sich die Bemühungen vor Ort in den Abrufzahlen der Gelder niedergeschlagen haben, ist dem Sozialministerium allerdings nicht bekannt. Als Grund nennt ein Sprecher die unterschiedlichen Zuständigkeiten - denn das Sozialministerium ist nur für die Sozialhilfe- und Grundsicherungsberechtigten zuständig und nicht für die Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger. Es bleibt kompliziert.

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