Baden-Württemberg wäre im Verteidigungsfall Drehscheibe für NATO-Truppen. Die Bundeswehr sucht daher engen Kontakt zum Ministerpräsidenten - und fühlt sich seit Monaten ignoriert.
"Semper fidelis" - "Immer treu" heißt der Militärmarsch, den die Blechbläser des Heeresmusikkorps auf der Rasenfläche der Wildermuth-Kaserne in Böblingen im Fackelschein am Dienstagabend anstimmen. Eigentlich ein Moment des Feierns für die Bundeswehr. Doch der Kommandeur des Landeskommandos Baden-Württemberg, Michael Giss, nutzt den Streitkräfteempfang der Landesregierung für überraschend harte Kritik. Sein Vorwurf an das Staatsministerium: Ein Gespräch bei Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), um Baden-Württemberg auf wachsende militärische Bedrohungen vorzubereiten, werde ihm verweigert. Aus Sicht des Kommandeurs ist das ein ungewöhnlicher Vorgang.
BW als wichtige Drehscheibe für die NATO
Landeskommandeur Michael Giss, der das Landeskommando Baden-Württemberg seit September anführt, erklärt gegenüber dem SWR: "Ich bin der militärische Berater des Ministerpräsidenten. Deswegen gehört es sich einfach, dass ich mich da vorstelle." Außerdem sei das Wort des Ministerpräsidenten entscheidend, um tatsächlich alle Ministerien für die Bedrohung zu sensibilisieren. Auch aus einem anderen Grund sei ein Gespräch wichtig: Baden-Württemberg werde im Verteidigungsfall zu einer wichtigen Drehscheibe für die NATO nördlich der Alpen.
Staatsministerium weist auf vereinbarten Termin hin
Im Staatsministerium kann Regierungssprecher Matthias Gauger die Dringlichkeit für ein persönliches Gespräch zwischen Landeskommandeur und Ministerpräsident nicht nachvollziehen. Gauger sagte dem SWR: "Im Hinblick auf den Antrittsbesuch des neuen Landeskommandeurs bei Herrn Staatsminister bestehen derzeit keine Planungen für einen Termin bei Herrn Ministerpräsidenten." Die Pressestelle des Staatsministeriums verweist auf ein geplantes Gespräch mit dem Chef der Staatskanzlei, Florian Stegmann. Aus Termingründen musste dieses für November geplante Gespräch auf Anfang Dezember verschoben werden, heißt es aus dem Staatsministerium.
Die Bundeswehr bestätigt, dass Gespräche mit der Staatskanzlei möglich sind, lässt jedoch durchblicken, dass sie die Bedeutung und die Dringlichkeit solcher Gespräche vermissen lässt. Stephan Voges, Pressesprecher des Landeskommandos Baden-Württemberg: "Egal, ob es Französischunterricht ist oder Windkraft: Der Ministerpräsident sagt, wo es langgeht. Und für uns ist natürlich wichtig, dass wir dann auch jemanden haben, der die Botschaft ins Ländle trägt, dass wir uns vorbereiten müssen."
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Zur Verteidigung gehöre eben nicht nur der militärische Teil, sondern auch der zivile, so Voges. Da gehe es um Vorräte, Verständnis in der Bevölkerung, aber auch um Unterstützung. "Insgesamt ist für uns wichtig, dass der Bevölkerung erklärt wird, worauf es ankommt. Wir müssen in die Köpfe der Bevölkerung und das macht der Landesvater." Die Sorge der Bundeswehr, kein Gehör im grünen Staatsministerium zu finden, scheint gewachsen. Beim Landeskommando kritisieren Kommandeur und Pressestelle, dass die Kontakte zum Ministerpräsidenten schon in der Vergangenheit schwach ausgeprägt waren. Das Staatsministerium verweist wiederum auf einen gemeinsamen Termin im März, ein Gespräch mit einem General und dem damaligen Landeskommandeur. Hierzu präzisiert das Landeskommando Baden-Württemberg seine Kritik, dass die beiden Vorgänger von Kommandeur Giss keinen eigenen Termin beim Ministerpräsidenten bekommen hatten.
Die Bevölkerung zur Zusammenarbeit mit der Bundeswehr bringen
Grund für die Gespräche ist der Operationsplan Deutschland. Dieser soll den Aufmarsch alliierter Streitkräfte über und durch Deutschland an die NATO-Ostflanke sicherstellen. Ziel ist es laut Bundeswehr, schnell handlungsfähig zu sein - über Ressort- und Ländergrenzen hinweg. Die maximale zivile Unterstützung ist dabei für die Bundeswehr ein entscheidender Faktor. Dafür brauche es politischen Druck, sagt Giss: "Ein möglicher Verteidigungsfall der NATO, mit dem die Bundeswehr in vier bis sechs Jahren rechnet, bedeute, dass sich alle darauf vorbereiten müssten, egal ob Schulen, Verkehr oder Firmen."
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Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU), der den Streitkräfteempfang in Böblingen organisiert hatte, zeigt sich auf Nachfrage des SWR erstaunt, möchte zu einer Absage von Gesprächen aber nichts sagen. Sein Ministerium stehe mit der Bundeswehr in Verbindung. In seiner Rede spricht er von einem neuen Mindset, das man gegenüber der Bundeswehr brauche: In der Vergangenheit habe die Bundeswehr vor allem im Zivilen geholfen: Corona, Katastrophenschutz und Flüchtlingskrise, so Strobl. Jetzt sei es der umgekehrte Fall, jetzt gehe es darum, die Streitkräfte zu unterstützen. Die Zeitenwende müsse in den Köpfen ankommen, es brauche einen Mentalitäts- und Handlungswandel.
Bundeswehr: Bedrohungslage bereits sehr konkret
Was die aktuelle Bedrohungslage in Deutschland angeht, nimmt die Bundeswehr kein Blatt vor den Mund. Der Kommandeur des Landeskommandos Baden-Württemberg erklärt gegenüber dem SWR: "Die Bedrohungslage ist schon sehr akut. Es gibt jeden Tag in der Bundesrepublik Deutschland unzählige Beispiele für Cyber-Angriffe, für Ausspähversuche, für Sabotageakte und der Feind heißt Russland."
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Giss spricht von einer ersten Angriffsphase des Gegners, die schon längst laufe. Schon jetzt gebe es massive Ausspähung der Ausbildung ukrainischer Streitkräfte auf deutschen Truppenübungsplätzen, Abhören von Handys, Ausspähungen mit Drohnen. Auch im ganz normalen Alltag: Autobahnkreuze, Schienenverkehrsknotenpunkte, Energieversorgungen, all das werde angeschaut mit der Frage "Wie kann ich so etwas lahmlegen, kaputtmachen, sabotieren". "Dafür gibt's eben jeden Tag Beispiele und das beunruhigt uns und die anderen Sicherheitsbehörden natürlich sehr", sagt Giss. "Wir haben natürlich alle keine Glaskugel, aber das, was wir seitens der Bundeswehr über unsere Dienste und über unsere Verbindungen wissen ist, dass wir uns eben auf einen Zeitraum von vier, fünf, sechs Jahren einstellen müssen. Ab da könnte Russland in der Lage sein, auch mit konventionellen Kräften die NATO zumindest zu testen, was dann eben auch weitere Folgen und Effekte haben wird." In einer woken und ultraliberalen Gesellschaft sei es nicht immer leicht, die Bevölkerung für einen möglichen Krieg zu sensibilisieren, so Giss in seiner Rede am Dienstagabend.
Staatsministerium irritiert über Vorwürfe
Über das öffentliche Vorpreschen des neuen Landeskommandeurs und über seine Aussagen herrscht wiederum Irritation im Staatsministerium. Ein Gespräch zwischen Landeskommandeur und Ministerpräsidenten ist aus Sicht des Staatsministeriums nicht notwendig. Dahinter steckt offenbar, dass die Landesregierung auch in solchen Dingen den direkten Kontakt zum Bundesverteidigungsministerium und seinem Minister Boris Pistorius (SPD) pflegt. Bereits in der Vergangenheit hatten Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Umweltministerin Thekla Walker (beide Grüne) direkte Gespräche zum Ausbau erneuerbarer Energien im Umfeld von Truppenübungsplätzen.
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Regierungssprecher Matthias Gauger: "Wir stehen mit der Bundeswehr auf allen Ebenen im ständigen und guten Kontakt. Dem Ministerpräsidenten ist die Umsetzung der Zeitenwende ein wichtiges Anliegen, das wir mit großer Ernsthaftigkeit verfolgen und bei dem wir den Bund unterstützen. Daher wird sein Chef der Staatskanzlei, der für die Koordination innerhalb der Landesregierung zuständig ist, zeitnah einen Austausch auch mit dem neuen Landeskommandanten führen." Die Staatskanzlei habe dem Schreiben der Bundeswehr keine besondere Dringlichkeit für ein Treffen entnehmen können. Das Landeskommando Baden-Württemberg wertet solche Hinweise als Absage an den eigenen Landeskommandeur und seinen Wunsch, mit dem Ministerpräsidenten zu sprechen.
Gleichwohl zeigt man sich bei der Bundeswehr bemüht, das Staatsministerium nicht allzu sehr zu verprellen. So teilte der Pressesprecher Stephan Voges mit: "Wir freuen uns, dass der Kommandeur des Landeskommandos Baden-Württemberg Kapitän zur See Michael Giss noch vor Weihnachten die Gelegenheit zum Austausch mit dem baden-württembergischen Staatsminister und Leiter der Staatskanzlei Dr. Florian Stegmann hat."
Fakt ist, dass in anderen Bundesländern Antrittsbesuche und persönliche Gespräche zwischen Landeskommandeur und Ministerpräsident oder Ministerpräsidentin stattfinden. Laut Regierungssprecher Gauger vergehen aber auch dort manchmal einige Monate zwischen Amtsantritt und einem Treffen, im Saarland habe es zum Beispiel ein halbes Jahr bis zum Gespräch gedauert.
Auf Anfrage des SWR reagierte eine Sprecherin des Territorialen Führungskommandos der Bundeswehr nicht direkt auf Giss' Vorwürfe. Sie wies allerdings darauf hin, dass der Befehlshaber des Territorialen Führungskommandos die "Mehrheit der Ministerpräsidenten der Länder" bereits nach seinem Dienstantritt getroffen habe. Auch ein Gespräch mit Kretschmann habe im Frühjahr 2024 stattgefunden. "Die Zusammenarbeit zwischen Bundeswehr und Landesregierung ist eng, vertrauensvoll und verbindlich."
FDP fordert umgehendes Gespräch
Anders sieht es der FDP-Landtagsabgeordnete Hans-Dieter Scherer, der auch bundeswehrpolitischer Sprecher seiner Fraktion ist und beim Streitkräfteempfang in Böblingen dabei war. Er befürchtet, dass man davon ausgehen müsse, dass das Staatsministerium die Dringlichkeit der Lage nicht erkenne. Man könne im Falle eines militärischen Konflikts an der NATO-Ostflanke nicht wie bei Corona ad hoc reagieren, sondern man müsse die Bevölkerung darauf vorbereiten. Truppenverlegungen in Baden-Württemberg bedeuteten vor allem auch für den Verkehr Einschränkungen. Außerdem müssten die Brücken dringend vorbereitet werden. Wenn Militärfahrzeuge in großer Zahl verlegt werden müssten, dann müssten diese standhalten, so Scherer.
Der FDP-Abgeordnete Scherer sieht im Landeskommandeur den allerersten Ansprechpartner der Landesregierung in Baden-Württemberg für die zivil-militärische Zusammenarbeit. "Putin ist unberechenbar, der Angriffskrieg Russlands könnte jeden Moment auch auf die NATO übergreifen und dann muss in Baden-Württemberg alles funktionieren. Ich weiß auch nicht, was für den Ministerpräsidenten seit Einsetzung des neuen Landeskommandeurs so wichtig war, dass er nicht einmal Zeit für erste Gespräche hatte. Ich fordere Winfried Kretschmann deshalb auf, umgehend das Telefon in die Hand zu nehmen und den Landeskommandeur zu sich einzuladen", so Scherer.
Landes-SPD: Kretschmann setzt falsche Prioritäten
Ähnlich wie Scherer äußert sich die Landes-SPD. Ihr Generalsekretär Sascha Binder teilte dem SWR auf Anfrage mit, der Ministerpräsident setze falsche Prioritäten. "Die Sicherheit des Landes muss oberste Priorität haben. Wenn Kretschmann weiter die Bundeswehr im eigenen Land ignoriert, bedeutet das ein Sicherheitsrisiko", kritisiert Binder und fügt hinzu: Der Ministerpräsident wolle noch ein Jahr regieren, das bedeute aber mehr, als den Landespresseball zu eröffnen.
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