Die Menschen in Baden-Württemberg sehen aktuell in der Zuwanderung das drängendste Problem im Land. Die Kommunen wollen den Zuzug so nicht mehr hinnehmen, die Lage vor Ort sei ernst.
Angesichts der steigenden Zuwanderung erhöhen die Kommunen in Baden-Württemberg den Druck auf den Bund. Nach Monaten des Abwartens müsse die Ampel-Regierung in Berlin endlich eine effektive "Begrenzungsstrategie" vorlegen, fordern Gemeinde- und Landkreistag. Die Lage vor Ort sei ernst, Helfende und Behörden seien am Limit, in Kitas und Schulen gebe es keine weiteren Kapazitäten.
"Wir brauchen daher dringend einen Richtungswechsel in der Migrationspolitik", sagte Joachim Walter, Präsident des Landkreistags, dem SWR. Es seien nun schnelle Schritte nötig, um eine Überforderung des Gemeinwesens abzuwenden. "Außer kleinteiligen Initiativen und vielen Ankündigungen gibt es bislang keine wirksamen Maßnahmen", kritisierte Steffen Jäger, Chef des Gemeindetags.
Unterstützung von Innenminister Strobl
Auch BW-Innenminister Thomas Strobl (CDU) äußerte sich: "Die Städte, Gemeinden und Landkreise sind am Anschlag und haben recht mit ihrem Hilferuf. Ihre Belastungsgrenze ist erreicht und überschritten. Diesen Hilferuf muss die Ampel in Berlin endlich ernst nehmen und nicht streiten, sondern handeln." Man säße "aktuell auf einem Pulverfass, von dem nur Rechtspopulisten profitieren."
Türkei soll auf Liste der sicheren Herkunftsländer
Die Bundesregierung müsse die Liste der sicheren Herkunftsstaaten erweitern, und zwar nicht nur um die Republik Moldau und Georgien, sondern auch um die Maghreb-Staaten Marokko, Tunesien und Algerien sowie die Türkei. Aus dem Nato-Land Türkei seien zuletzt mit die meisten Asylsuchenden gekommen - obwohl die Anträge vieler Menschen nicht anerkannt würden.
An Kanzler Olaf Scholz (SPD) appellierten die Kommunalverbände, sich entschieden für eine gerechtere Verteilung der Geflüchteten in der Europäischen Union einzusetzen. "Wenn europäische Solidarität bei der Geflüchtetenaufnahme nicht auf freiwilliger Basis erreicht werden kann, muss sie jetzt forciert werden", sagte Jäger. Am Mittwoch war bekanntgeworden, dass Scholz trotz Widerstands der Grünen entschieden hat, der Verschärfung des Asylsystems der EU zuzustimmen.
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Grenzkontrollen und niedrigere Sozialleistungen
Außerdem fordern die Kommunen Grenzkontrollen, eine Senkung der Sozialleistungen für Flüchtlinge sowie schnellere Asylverfahren. Denn nur so könne die Entscheidung über das Bleiberecht schon in der Erstaufnahme fallen. "Eine Weiterverteilung auf die Kommunen darf nur erfolgen, wenn ein Bleiberecht wirksam festgestellt wurde", heißt es vom Gemeindetag.
Das Vertrauen der Menschen in den Staat sei wegen der Migrationspolitik beschädigt, so der Präsident des Landkreistags, der Tübinger Landrat Walter. "Um dieses Vertrauen zurückzugewinnen, braucht es eine aktive Migrationspolitik, die die vorhandenen Gestaltungsspielräume energisch nutzt und die kommunale Wirklichkeit fest im Blick hat, statt sie auszublenden." Die repräsentative Umfrage BW-Trend von Infratest dimap im Auftrag von SWR und "Stuttgarter Zeitung" hatte ergeben, dass vier von zehn Menschen im Land, Zuwanderung und Flucht als wichtigstes politisches Problem im Land sehen.
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Verständnis für Forderungen der Kommunen - Kritik an gewünschter Einstufung der Türkei
Das Migrationsministerium in Stuttgart reagierte verständnisvoll auf die Forderung der Kommunen. Eine Sprecherin sagte dem SWR, die Türkei sei seit mehreren Monaten auf Platz eins der Herkunftsländer - im Juni mit rund 29 Prozent, im Juli mit etwa 33 Prozent und im August mit fast 40 Prozent. Allein im August sind ungefähr 1.600 Türkinnen und Türken gekommen. Das sind deutlich mehr Menschen als aus Syrien und Afghanistan.
Auch bundesweit sei die Türkei mit aktuell 20 Prozent der Zugänge das zweitstärkste Hauptherkunftsland. "Diese Entwicklung beobachten wir mit Sorge, denn die Kapazitäten in Baden-Württemberg sind nahezu ausgeschöpft. Es werden allgemein Diskussionen darüber notwendig sein, wie die vorhandenen Kapazitäten optimal zum Schutz derer eingesetzt werden können, die ihn am dringendsten brauchen", sagte die Sprecherin von Ministerin Marion Gentges (CDU).
Warum so viele Menschen aus der Türkei nach Deutschland kommen, ist laut Experten nicht ganz klar. Man vermutet mehrere Gründe: Die türkische Wirtschaft steckt in der Krise und selbst die Mittelschicht hat Probleme über die Runden zu kommen. Zudem geht das Regime von Präsident Recep Tayyip Erdoğan weiter mit Willkür und Härte gegen Kritiker und Oppositionelle vor.
Der Flüchtlingsrat in Baden-Württemberg kritisierte den Vorschlag von Landkreis- und Gemeindetag. "Die Idee, die Türkei als sicheren Herkunftsstaat einzustufen, ist eine sehr populistische Idee." Man wolle damit dafür sorgen, dass weniger Menschen nach Baden-Württemberg kommen, sagte Anja Bartel vom Flüchtlingsrat. "Die Betroffenen werden stigmatisiert, es wird suggeriert, dass es sich um Menschen ohne Asylgrund handeln würde, die das Asylsystem nur ausnutzen wollen würden."
Rückgriff auf Notunterkünfte möglich
Landkreis- und Gemeindetag verwiesen darauf, dass seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine rund 176.000 Menschen aus der Ukraine aufgenommen worden seien. Diese müssen aufgrund einer Sonderregelung keinen Asylantrag stellen. Hinzu kämen über 24.000 Erstanträge auf Asyl in den ersten acht Monaten. "Das ist doppelt so viel wie im Vorjahr. Und die Zugangsdynamik nimmt weiter zu", beklagte Walter und warnte: "Wenn es weiterhin nicht gelingt, die Zugangszahlen zu begrenzen, wird immer häufiger auf Notunterkünfte zurückgegriffen werden müssen."
Landkreis- und Gemeindetag pochen zudem darauf, dass anerkannte Asylbewerberinnen und -bewerber besser in den Arbeitsmarkt integriert werden. "Hier muss es darum gehen, in Zeiten des Arbeitskräftemangels den Einstieg ins Arbeitsleben zu erleichtern, aber auch einzufordern", sagte Jäger.
Es könne nicht angehen, dass diese Menschen keine Beschäftigung aufnehmen könnten und ihre Abschlüsse nicht anerkannt würden. Er sagte aber auch: "Sozialleistungen wiederum müssen enger mit konkreten Mitwirkungspflichten verbunden werden. Dazu gehören auch Leistungskürzungen, wenn zur Verfügung gestellte Arbeitsgelegenheiten nicht wahrgenommen werden."
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Verbände fordern mehr Geld für Unterbringung
Die Kommunalverbände mahnten beim Bund an, die finanzielle Unterstützung für Städte und Gemeinden dürfe auf keinen Fall gekürzt werden, sondern müsse an die tatsächlichen Kosten angepasst - also erhöht - werden. Für den sozialen Zusammenhalt wäre es fatal, wenn in den politischen Gremien darüber diskutiert werden müsse, welche wichtigen kommunalen Maßnahmen zurückgestellt werden müssten, "um Migrationskosten decken zu können", so Walter. Komme der Bund nicht für die Kosten auf, müsse das Land einspringen.
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