Die US-Regierung plant, ab 2026 Mittelstreckenraketen auch wieder in Deutschland zu stationieren - zum ersten Mal seit Ende des Kalten Krieges. Im Odenwald weckt das Erinnerungen.
Die Pläne wurden eher beiläufig am Rande des Nato-Gipfels im Sommer bekannt: Die USA wollen ab 2026 wieder Waffensysteme, Flugabwehr und Raketen in Deutschland stationieren. Die Raketen sollen theoretisch in der Lage sein, bis nach Russland zu fliegen. Seitdem wird nicht nur im Bundestag darüber diskutiert, welche Folgen eine solche Stationierung in Deutschland haben könnte.
Raketen-Stellung in Dallau in den 1950er Jahren
In vielen Städten und Gemeinden in Deutschland wecken die Pläne der US-Regierung auch Erinnerungen an den Kalten Krieg. Zum Beispiel im kleinen Elztal-Dallau (Neckar-Odenwald-Kreis). Dort bestand seit den 1950er Jahren eine amerikanische "Nike"-Raketen-Stellung oberhalb des Ortes - "Nike" bezeichnet den Raketentyp. In der Nähe: Eine riesige Radar-Anlage, dazu Kasernen unten im Tal.
Die Raketenpläne für Mosbacher Landrat: "Streng geheim!"
Es war der 16. Juni 1956, als auf dem Tisch des damaligen Mosbacher Landrats Ernst Ditton ein zweiseitiges Schreiben landete. Absender war das Regierungspräsidium Nordbaden, der Betreff lautete: "Abschuss-Basen für Flugzeugabwehrraketen (System Nike)". Ganz oben prangte in signalroter Stempelfarbe das Wort "Geheim!".
Kalter Krieg: USA setzte auf Abschreckung durch Raketen
Der Zweite Weltkrieg war gerade mal elf Jahre vorbei, aber nun gab es einen neuen Krieg, den sogenannten Kalten Krieg, zwischen dem Westen und dem damaligen Ostblock. Die US-Amerikaner setzten auf Abschreckung und suchten deswegen nach Standorten für Raketen, die einerseits Richtung Sowjetunion gerichtet werden und andererseits mögliche Luftangriffe aus dem Osten abwehren sollten. Da boten sich auch die Höhenzüge des Odenwalds an.
Stationierung von US-Soldaten in Dallau 1959
Nach langwierigen Prüfungen einigten sich die beteiligten Behörden im Austausch mit den US-Streitkräften auf zahlreiche Standorte auch in Baden-Württemberg - unter anderem auf ein Gelände oberhalb von Dallau, heute ein Ortsteil von Elztal im Neckar-Odenwald-Kreis. 1959 wurden die ersten US-Soldaten in Dallau stationiert.
US-Soldaten in Dallau schliefen zunächst in Lastwagen
"Die (US-Soldaten) haben am Anfang auf ihren Lastwagen geschlafen, es gab ja noch nichts", erinnert sich der 76-jährige Otmar Bangert. Er hat sich intensiv mit der Stationierung der Amerikaner in Dallau befasst. Unterkünfte für bis zu 150 US-amerikanische Soldaten mussten erst noch gebaut werden, eine Kaserne, die eigentliche Raketen-Abschuss-Basis weit oberhalb des Dorfes, außerdem eine Radaranlage.
"Nicht gefährlicher als eine Tankstelle"
"Jede Beunruhigung der Bevölkerung ist zu vermeiden", hatte es in dem ersten geheimen Schreiben zu den Plänen der US-Regierung von 1956 geheißen. Und ein Flugblatt versicherte den Dallauern: "Eine Nike-Anlage bringt keine größeren Gefahren als eine herkömmliche Benzin-Tankstelle mit sich." Die Bürgerinnen und Bürger zeigten sich aber auch später nicht besonders beunruhigt, denn für das kleine, ländlich geprägte Dorf Dallau hatte die Ansiedlung viele Vorteile: Straßen wurden ausgebaut, das Kanalsystem erneuert, die erste Kläranlage errichtet. Auch beim Bau der großen Sport- und Festhalle halfen die US-Amerikaner tatkräftig.
Dallauer als Küchenhilfe in Kaserne
"Einen Winter lang leisteten sich die US-Soldaten den Luxus und beschäftigten Leute aus dem Dorf in der Küche der Kaserne", erinnert sich Dieter Bangert aus Dallau. "Ich war Tellerwäscher", berichtet der 78-Jährige und fügt an: "Zum Millionär hat man es da aber leider nicht gebracht!" Die Soldaten bezahlten die Dallauer Angestellten aus eigener Tasche, aber nach einem halben Jahr wurde ihnen das zu teuer. Putzen, Spülen, Kochen - all das machten die US-Soldaten danach wieder selbst und in Eigenregie. "Dabei konnten die Köche gar nicht kochen, die kochten die Nudeln ohne Wasser, es war grässlich", sagt Bangert lachend.
US-Soldaten in Dallau: "Essen und Alkohol in rauen Mengen"
Kein Wunder, dass viele der US-Offiziere und Soldaten deswegen zum Essen lieber ins Dorf gingen, hier waren sie allgegenwärtig. "Ein Dollar, das waren damals vier Mark, so gesehen waren die richtig wohlhabend", weiß der langjährige Gemeinderat Hermann Blaschek. "Essen und auch Alkohol, das gab es bei denen in rauen Mengen", so Blaschek. Im damaligen Gasthaus Löwen kamen sich mitunter auch Soldaten und junge Dallauerinnen näher, und später wurden einige Ehen geschlossen.
Hin und wieder öffneten die amerikanischen Streitkräfte die Tore der Kaserne für die Bevölkerung. Im Jahr 1964 zum Beispiel drehten dazu die Mitglieder des Mosbacher Amateur-Film-Clubs MOFAC diesen kurzen Film, der einen Blick auf Soldaten und Raketen erlaubt:
"Einer der jungen Amerikaner hat sogar in unserem Kirchenchor mitgesungen", erinnert sich Dieter Bangert. Andere GIs - also US-amerikanische Soldaten - brachten das Basketball-Spiel in das kleine Dorf. Dass Dallau jahrzehntelang eine feste überregionale Größe in der süddeutschen Basketball-Landschaft war, ist damit auch dem Kalten Krieg und den Nike-Raketen zu "verdanken".
Die Raketen auf der Stellung oberhalb des Ortes wurden regelmäßig unter Sirenengeheul aufgestellt und ausgerichtet. Für den Ernstfall habe es eine Telefonleitung gegeben, die direkt von dem Dallauer Hausberg zum Pentagon in Washington geführt habe, so erinnern sich die alten Dallauer. Auch Angriffe auf die Stellung habe es zu Übungszwecken gegeben: "Wir waren manchmal zum Mähen auf den Feldern, und dann kamen plötzlich mit einem furchtbaren Lärm die Tiefflieger angerast", erinnern sich die Brüder Otmar und Dieter Bangert. Ob auch Atomsprengköpfe an der Raketen-Basis gelagert wurden? So ganz sicher ist das bis heute nicht. "Vielleicht allenfalls vorübergehend", vermuten die Zeitzeugen.
Betreten der Raketen-Stellung und der Kaserne war streng verboten
Überhaupt drang wenig Internes nach außen: Das Betreten der Raketen-Stellung, der Radaranlagen oder des Kasernengeländes war streng verboten, Fotografieren auch. Überall standen Wachtürme. Um Auseinandersetzungen unter den Soldaten kümmerte sich ausschließlich die US-amerikanische Militärpolizei aus Heilbronn, das Gelände in Dallau war amerikanisches Hoheitsgebiet. "Einmal hat es eine Schießerei mit mehreren Toten in der Kaserne gegeben", erinnert sich der 70 Jahre alte Friedbert Englert. Auch darüber erfuhr man kaum etwas, deutsche Polizei und Ermittlungsbehörden durften nicht tätig werden.
Kaserne in Dallau: Für Viele eine Strafversetzung
Wussten die US-Soldaten die ansonsten idyllische Umgebung zu schätzen? "Eher nicht", meint Friedbert Englert. Er ist überzeugt: "Für viele war der Einsatz hier in Dallau eine Strafversetzung." Wer sich in den US-Kasernen in Heidelberg oder Heilbronn etwas zuschulden kommen ließ, sei nach Dallau versetzt worden. "Und wer dann in Dallau Unsinn machte oder gar straffällig wurde, kam in den Vietnamkrieg", sagt Englert. "Das war für viele wie ein Todesurteil."
Raketen-Stellung in Dallau 1983 abgebaut
So ganz freiwillig waren die Männer und auch einige Frauen der US-Streitkräfte also nicht in Dallau. Dazu passt die Geschichte, die man sich dort vom Ende der Nike-Stellung erzählt: 1983 fiel der Entschluss, die Raketen-Stellung abzubauen und die Kaserne in Dallau aufzulösen. Als die Soldaten davon erfuhren, sei ihr Jubel und Freudengeschrei im ganzen Ort zu hören gewesen.
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