Kommunen sehen sich an Belastungsgrenze

Zoff um Versorgung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge: Lucha lädt zu Krisentreffen

Stand
Autor/in
Henning Otte

Für die Betreuung der Minderjährigen, die allein nach Deutschland geflüchtet sind, sind die Kommunen zuständig. Doch diese haben kaum noch Fachpersonal und warnen vor einem Kollaps.

Die Kommunen schlagen Alarm wegen der Unterbringung von immer mehr minderjährigen Flüchtlingen, die ohne ihre Eltern nach Baden-Württemberg gekommen sind. Städtetag und Landkreistag haben Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) in den vergangenen Wochen mehrere Brandbriefe geschrieben, die dem SWR vorliegen. Die Jugendhilfe sei wegen des großen Personalmangels faktisch nicht mehr in der Lage, die Jugendlichen unterzubringen und zu versorgen.

Die Kommunen fordern dringend mehr finanzielle und organisatorische Hilfe des Landes. Lucha lehnte das bisher ab und verwies auf die Zuständigkeit der Stadt- und Landkreise. Nun hat er aber für Dienstag (17.1.) die Spitzen der Kommunalverbände zu einem Gespräch eingeladen, wie das Ministerium dem SWR bestätigte. 

Kommunen fordern: Land soll Erstaufnahme für Minderjährige übernehmen

Die Kommunen pochen darauf, dass das Land die Erstaufnahme der minderjährigen Flüchtlinge übernimmt. Baden-Württemberg solle ähnlich wie bei erwachsenen Geflüchteten diese in Erstaufnahmeeinrichtungen (LEA) unterbringen und registrieren. Städtetagschef Peter Kurz (SPD) und der Präsident des Landkreistags Joachim Walter (CDU) schlugen vor, für die jungen Geflüchteten jeweils eine Anlaufstelle in den vier Regierungsbezirken einzurichten.

Die Erfahrungen des Landes beim Betrieb der Erstaufnahmeeinrichtungen machten deutlich, "dass auch eine größere Zahl von Personen durch erste Verfahrensschritte an wenigen, zentralen Orten gut versorgt und für die weitere Unterbringung besser verteilt werden kann", schreiben die beiden an Lucha. "Hierin sehen wir im Moment die einzige Chance, den Kollaps auf lokaler Ebene zu vermeiden."

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Der Minister wies diese Forderung bisher entschieden zurück. Der Vorschlag sei nicht verfassungskonform und entspreche auch nicht den vereinbarten Zuständigkeiten. In einem Brief Luchas an die Kommunalverbände heißt es: "Der Aufbau eines Systems der zentralen Erstaufnahme würde erhebliche Zeit in Anspruch nehmen, um die nötigen räumlichen und vor allem personellen Ressourcen aufzubauen." Zudem entstünden überflüssige Doppelstrukturen im Bereich der Jugendhilfe.

Lucha verwies ferner darauf, dass zu Spitzenzeiten in den Jahren 2016 und 2017 jeweils bis zu 9.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Baden-Württemberg gekommen seien. Im vergangenen Jahr seien es etwa 3.180 gewesen. Zudem betonte er, das Land unterstütze die Kommunen bereits mit 100 Millionen Euro pro Jahr für die Inobhutnahme und Versorgung.

Lucha will über bessere Verteilung der jungen Geflüchteten sprechen

Bei dem Gespräch mit den Kommunen will Lucha nun besprechen, wie kurzfristig mehr Plätze für die betroffenen Jugendlichen geschaffen werden und diese besser auf alle Stadt- und Landkreise verteilt werden können. Für letzteres ist das Landesjugendamt zuständig. Zuletzt hatte das Ministerium bereits zugestimmt, dass die geflüchteten Minderjährigen nicht mehr rund um die Uhr von pädagogischem Personal betreut werden müssen. Von 22 bis 6 Uhr könne die Sicherheit durch einen Security-Dienst gewährleistet werden. In Räumen größer als 20 Quadratmeter dürften vorübergehend sechs statt vier Betten stehen, erklärte eine Ministeriumssprecherin dazu.

Nun soll es nach SWR-Informationen eine weitere Erleichterung geben: Um zu vermeiden, dass die minderjährigen Geflüchteten obdachlos werden, können die Jugendämter nun auch Notfallunterbringungen nutzen. So könne immerhin ein Mindestmaß an Kinderschutz gewährleistet werden, heißt es in einem Rundbrief des Städtetags. Die Ministeriumssprecherin erläuterte, "das wird in Sammelunterkünften wie Turnhallen regelmäßig nicht der Fall sein, sondern eher in Einzelunterbringung oder kleineren Gruppen". Nach Angaben des Ministeriums kommen die meisten unbegleiteten Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Kinder und Jugendliche aus der Ukraine kämen zumeist mit erwachsenen Angehörigen.

Kommunen sehen sich mit mehreren Krisenfolgen konfrontiert

Die Kommunen beklagen, dass die Fachkräfte in der Jugendhilfe völlig überlastet seien, weil wegen der Corona-Krise auch vermehrt Kinder und Jugendliche mit psycho-sozialen Problemen zu ihnen kämen. Hinzu komme, dass der Anteil der jungen Männer unter den Geflüchteten mit hohem Gewaltpotenzial und Drogenproblemen stark zugenommen habe.

Notwendige Einzelfallbetreuung in Notunterbringung nicht möglich

Der Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg wies gegenüber dem SWR darauf hin, dass die notwendige Betreuung besonders schutzbedürftiger unbegleiteter Minderjähriger, und dazu zählten auch gerade diese schwerwiegenden Einzelfälle, in Notfallangeboten nicht gewährleistet sei. Auch dort müsse das Jugendamt ein Mindestmaß an Kinderschutz sicherstellen. Wo keine Einzelfallbetreuung möglich sei, müssten andere Experten wie etwa Kinder- und Jugendpsychiater eingeschaltet werden, so der Verband.

Laut den Kommunen gibt es grundsätzlich deutlich weniger Plätze in der Jugendhilfe, weil Einrichtungen wie die Caritas, die Diakonie oder Vereine ihre Kapazitäten nach der Migrationskrise 2015 und 2016 wieder zurückgefahren hätten. Vor allem wegen fehlender Fachkräfte sei man nicht in der Lage, nun schnell neue Plätze zu schaffen. 

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