Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan muss Rahmatullah Hussainy fliehen. Er gilt als Verräter - weil er für eine deutsche Organisation gearbeitet hat. Heute lebt er in Freiburg.
Für die radikal-islamischen Taliban ist Rahmatullah Hussainy ein Verräter allein deshalb, weil er für eine deutsche Organisation gearbeitet hat. Als heute vor genau drei Jahren die Taliban in Afghanistan die Macht übernahmen, war schnell klar, dass er das Land verlassen musste. "Sie kamen in mein Büro und haben mich beschimpft, sie haben mich einen Ungläubigen genannt", erzählt er. Hussainy floh. Jetzt wohnt der mittlerweile 41-Jährige mit seiner Familie in Freiburg.
Seit 2021 hat Baden-Württemberg nicht nur Hussainy, sondern rund 4.600 Afghaninnen und Afghanen aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen aufgenommen. Zum Großteil handele es sich hierbei um afghanische Ortskräfte und ihre Familien, teilte das Migrationsministerium auf SWR-Anfrage mit. Es befänden sich aber auch 30 besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen darunter. Das können nach Angaben des Ministeriums beispielsweise Menschenrechtsaktivisten oder Journalistinnen sein.
Machtübernahme der Taliban "war schrecklich"
Rahmatullah Hussainy erinnert sich noch genau an den 15. August 2021: an die Angst bei Freunden und Familie, an Menschenmassen, die zum Flughafen drängen, und an die Taliban auf den Straßen Kabuls. "Es war schrecklich", sagt der 41-Jährige. Zuvor waren die radikal-islamischen Taliban wochenlang vorgerückt, während sich die internationalen Truppen aus der Region zurückzogen. Dass sie Kabul so schnell einnehmen, hatte zunächst niemand erwartet.
15 Jahre lang arbeitete Hussainy für die Caritas. Er baute Brunnen, beaufsichtigte Gesundheitsprojekte und entwickelte Sicherheitskonzepte für die Mitarbeitenden. Am Tag der Machtübernahme der Taliban hatte er eigentlich Urlaub. Er fuhr trotzdem ins Büro. Dort herrschte Hektik. In letzter Minute sollte Geld an alle ausgezahlt werden - drei Monatsgehälter im Voraus.
Dann wurde das Büro dicht gemacht. Alle Mitarbeitenden sollten nach Hause gehen, dort auf weitere Informationen warten. Die meisten Kolleginnen und Kollegen seien nach Hause gelaufen, erzählt Hussainy. Die Straßen seien viel zu voll gewesen, um mit dem Auto fahren zu können. "Jeder wollte nämlich irgendwie zum Flughafen durchkommen."
Caritas-Mitarbeiter: Ortskräfte als "Ziele der Taliban"?
Organisationen wie Caritas International machten sich damals große Sorgen um ihre internationalen Mitarbeitenden, aber auch um ihre Ortskräfte. "Wir wussten nicht: Werden sie jetzt zu Zielen der Taliban? Und werden sie im schlimmsten Fall umgebracht?", erinnert sich Patrick Kuebart, Referatsleiter für den Nahen Osten und Nordafrika bei Caritas International. Die Taliban hätten sich von den afghanischen Ortskräften verraten gefühlt, weil sie mit westlichen Organisationen oder Staaten zusammengearbeitet hätten.
In den kommenden Monaten ermöglichte Caritas International 165 Afghaninnen und Afghanen die Flucht - alles Ortskräfte und ihre Familien. Auch Rahmatullah Hussainy konnte ausreisen. Nach einem Zwischenstopp in Quatar ging es im Oktober 2021 für ihn weiter nach Deutschland. "In Deutschland wurden wir von Kolleginnen und Kollegen der Caritas herzlich willkommen geheißen", erzählt er. Mit ihnen stehe er noch immer in Kontakt.
Flüchtlingsrat BW: Viele Menschen müssen weiter ausharren
Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg kritisiert, dass viele gefährdete Afghaninnen und Afghanen noch immer in ihrem Heimatland oder im Nachbarland Pakistan ausharren. "Wir erhalten immer noch E-Mails von Personen, die uns ihre schwierige Lage schildern, die verzweifelt sind und nicht wissen, was sie tun sollen", sagt Meike Olszak, Leiterin der Geschäftsstelle des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg. "Diesen Menschen können wir nur wenig Mut zusprechen."
Im Rahmen des Bundesprogramms für besonders gefährdete Menschen aus Afghanistan sollten eigentlich pro Monat bis zu 1.000 Menschen in Deutschland aufgenommen werden. "Mein letzter Stand ist, dass weniger als drei Prozent der angekündigten Aufnahmen ermöglicht wurden", sagt Olszak. Vielen Menschen seien die bereits erteilten Zusagen sogar wieder entzogen worden. Bundesinnenministerin Nancy Faeser plant nun, die Finanzierung des Programms fast ganz zu streichen. In diesem Zusammenhang sieht Olszak auch das Land Baden-Württemberg in der Pflicht. Es solle sich stärker für das Bundesprogramm einsetzen, sagt sie. Das sei zum Beispiel im Rahmen der Innenministerkonferenz möglich.
Olszak: Abgelehnte Asylanträge statt Schutzversprechen
Olszak findet den asylpolitischen Diskurs im Land vor dem Hintergrund der aktuellen Lage in Afghanistan erschreckend. "Es wird wenig von Schutzversprechen oder Verantwortung gesprochen", sagt sie. "Im Gegenteil: Es werden Mittel gekürzt, Abschiebungen gefordert und Asylanträge abgelehnt."
Hussainy bangt um Familie in Afghanistan
Bevor Rahmatullah Hussainy nach Deutschland kam, konnte er nur "guten Tag" sagen. Inzwischen hat er Deutsch gelernt und hilft nun seiner Frau dabei. "Die Sprache ist die erste Sache, die man lernen muss", ist er überzeugt. Nur so könne er um Hilfe fragen oder eine Arbeit finden. In den vergangenen drei Monaten hat Rahmatullah Hussainy viele Bewerbungen geschrieben, bisher aber nur Absagen bekommen. "Ich habe Erfahrungen im administrativen Bereich und in der Logistik - aber eben nur in Afghanistan. Das reicht vielen nicht", sagt er.
Mit einem Job könnte er seiner Familie in Afghanistan endlich Geld schicken. "Im Moment kann ich sie gar nicht unterstützen", sagt Rahmatullah Hussainy. Sein Bruder hat eigentlich einen guten Beruf. Er ist Professor. Seit der Machtübernahme der Taliban verdient er aber nicht mal mehr die Hälfte seines früheren Gehalts. "Pro Monat bekommt er umgerechnet 120 Euro", sagt Hussainy.
Frühere Ortskraft: "Dunkle Zeit für junge Frauen"
Sorgen macht Hussainy sich auch um seine jüngere Schwester. "Unter dem Talibanregime zu leben, ist für alle sehr schwer. Aber für junge Frauen ist eine besonders dunkle Zeit angebrochen", sagt er. Seine Schwester würde eigentlich gerne IT-Spezialistin werden. Mädchen dürften aber nicht zur Schule oder Universität gehen.
"Ich bin sicher hier in Deutschland", sagt Rahmatullah Hussainy. "Aber ich kann meine Familie, meine Mutter, meinen Bruder, meine Schwester, nicht nachholen." Das Einzige was ihm bleibt: der wöchentliche Anruf und die Whatsapp-Nachrichten.
Vor drei Jahren hoffte Rahmatullah Hussainy noch, dass sich die radikal-islamischen Taliban nicht lange an der Macht halten könnten. Diese Hoffnung hat sich zerschlagen. "Aber ich wünsche mir, dass die Taliban eines Tages verschwinden und wir in Afghanistan eine gute Regierung haben und jeder die gleichen Rechte hat."
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