Für viele gelten Essstörungen immer noch als ein Tabuthema. Dabei sollte darüber gesprochen werden, um Schlimmeres zu verhindern. Vor allem im Spitzensport stehen der Körper und das Gewicht oft im Vordergrund. Welche Anzeichen für eine Essstörung sprechen und wie Betroffene damit umgehen können, erklärt Dr. Rebekka Schwarz im SWR1 Interview.
Die Athletinnen Kim Bui und Miriam Neureuther sprechen inzwischen öffentlich über ihre Erfahrungen mit Gewichtsabnahme und Bulimie. In der ARD Dokumentation "Hungern für Gold – Essstörungen im Spitzensport" hinterfragen sie bestehende Systeme und suchen nach Lösungen. Aber auch Kinder und Jugendliche außerhalb des Leistungssport können betroffen sein. Mehr dazu erzählt uns Dr. Rebekka Schwarz. Sie ist leitende Oberärztin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie im St. Marien- und St. Annastiftskrankenhaus in Ludwigshafen am Rhein.
SWR1: Wie kann eine Magersucht überhaupt entstehen? Was sind erste Anzeichen?
Dr. Rebekka Schwarz: Erste Anzeichen sind häufig, das können Eltern daran erkennen, dass Kinder oder auch Jugendliche bestimmte Nahrungsmittel weglassen oder auch an bestimmten Mahlzeiten der Familie gar nicht mehr teilnehmen.
SWR1: Was sind die Gründe? Warum rutschen Jugendliche immer tiefer in die Magersucht oder wie die Turnerin Kim Bui in die Bulimie, die Ess- und Brechsucht?
Schwarz: Was wir häufig sehen sind Betroffene, die von der Persönlichkeit her einen ganz niedrigen Selbstwert haben. Bei der Magersucht ist es so, dass man mit nichts im Leben auch für mehr Kontrolle und auch Sicherheit sorgen kann und dann auch eine große Bestätigung erhält, indem man immer weniger isst und ein immer niedrigeres Gewicht am nächsten Tag auf der Waage stehen hat. Das heißt, unsere Patienten rutschen in so einen richtigen Teufelskreis. Jetzt heißt aber auch die Störung Magersucht, das heißt, das macht auch gerade diesen suchtartigen Charakter der Störung aus.
SWR1: Heißt das, man will immer auf jeden Fall die Kontrolle behalten? Ist das einer der Gründe?
Schwarz: Genau, das ist tatsächlich einer der Hauptgründe, was ganz ganz viele Betroffene uns auch so schildern.
SWR1: Warum sind auch Spitzenathletinnen und Athleten besonders gefährdet? Ist da der soziale Druck ganz groß, der Leistungsdruck?
Schwarz: Naja, Spitzenathleten haben häufig auch bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, die gerade einer Magersucht so ein bisschen in die Karten spielen. Wir haben es sehr häufig mit perfektionistischen Mädchen tun, die sehr zielstrebig sind. Das ist eben genau das, was man auch bei einer Magersucht "braucht". Das heißt, das, was sie aus dem Sport kennen, diese Zielstrebigkeit, diesen Perfektionismus. Den können die genau in die Magersucht legen und diese Bestätigung dann eben durch das Abnehmen ziehen.
SWR1: Aber es sind ja nicht immer nur junge Frauen betroffen, sondern auch junge Männer mittlerweile. Ein prominentes Beispiel ist die Ski-Legende Sven Hannawald. Der hatte da auch ein Problem.
Schwarz: Genau, das hat man immer so früher gehört. Der gehört zu den Menschen, die einfach so einer klassischen Sportart angehören, wo es sehr um ein niedriges Gewicht geht. Wir sehen schon prozentual weniger Jungs oder Männer, aber eben Sportarten, wo es um niedriges Gewicht geht, haben wirklich auch ein höheres Risiko. Weil, da gibt es vermeintlich eine harmlose Bemerkung von Trainern über eine ungünstige Figur. Das reicht dann eben gerade bei Betroffenen mit einem niedrigen Selbstwert, in so eine Abnehm-Spirale zu kommen.
SWR1: Wenn man einmal in dieser Spirale drinsteckt, ist das Herauskommen wahrscheinlich extrem schwer. Da braucht man eine gezielte Behandlung.
Schwarz: Genau, es braucht dann schon eine spezialisierte Behandlung. Wobei ich drauf hinweisen mag, dass der erste Ansprechpartner – weil wir es sehr häufig auch mit körperlichen Folgeerscheinungen zu tun haben – der Kinder- oder Hausarzt sein sollte, der zuerst mal körperlich Betroffene durchcheckt und schaut, was da vielleicht schon im Argen liegt. Dann wäre eben der erste Weg – und das ist mir auch immer ganz wichtig, dass Betroffene und ihre Eltern Hilfe sich frühzeitig holen – ein niedergelassener Kinder- und Jugendpsychiater, der schaut, welche Form der Behandlung ausreichend ist.
SWR1: Wie sieht so eine Behandlung aus und wie lange dauert die unter Umständen?
Schwarz: Es gibt verschiedene Behandlungsformen. Je früher man kommt, desto möglicher ist es, dass man dann eine sogenannte ambulante Therapie macht. Das heißt, man geht einmal in der Woche zu einem Kollegen in die Praxis. Manche sind aber auch so stark betroffen, das heißt, das Gewicht ist schon so niedrig, oder die Gedanken drehen sich nur noch um die Essstörung, dass eine stationäre Behandlung notwendig ist. Die Therapie dauert tatsächlich häufig auch insgesamt ein bis zwei Jahre.
SWR1: Ist man danach geheilt? Oder trägt man diese Sucht nach wie vor immer in sich?
Schwarz: Die meisten sind nicht ganz geheilt, sondern zeigen schon auch noch ein bisschen ein auffälliges Essverhalten. Aber es gibt auch tatsächlich Aussicht auf Heilung.
Das Gespräch führte SWR1 Moderator Frank Jenschar.
"Hungern für Gold – Essstörungen im Spitzensport" in der ARD Mediathek
Hilfe bei Essstörungen
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) bietet auf ihrer Webseite über Essstörungen weitere Informationen und Beratungsangebote an.
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