Erste personelle Konsequenzen

Turnerinnen erheben schwere Vorwürfe - Wie ist der aktuelle Stand? Wie geht es weiter?

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Redakteur/in
Michi Glang

Die schweren Vorwürfe gegen die Verbände DTB und STB sowie den Stützpunkt Stuttgart erschüttern das deutsche Turnen. SWR Sport gibt einen Überblick über den aktuellen Stand der Dinge (07.01.).

Mehrere Turnerinnen und frühere Athletinnen haben in den vergangenen Tagen über ihre Social-Media-Accounts schwere Vorwürfe gegen den Deutschen Turner-Bund (DTB) und den Schwäbischen Turnerbund (STB) vorgebracht. Nun wurden Medienberichten zufolge erste personelle Konsequenzen gezogen und zwei Personen vorläufig freigestellt.

Wer hat sich bislang geäußert? Was sind die Vorwürfe?

Im Dezember hatte die erst 17 Jahre alte Meolie Jauch ihre Karriere beendet und diesen Schritt mit mentalem Druck begründet. Ob diese Entscheidung mit den im Raum stehenden Vorwürfen zusammenhängen, ist nicht klar.

Drei Tage vor Heiligabend machte die frühere Turnerin Emelie Petz aus Backnang öffentlich, dass sie seit Langem mit Essstörungen und Selbstzweifeln lebt. Ihre Karriere musste sie 2023 wegen der Folgen einer Achillessehnenverletzung beenden. Konkrete Vorwürfe machte sie nicht, deutete aber Missstände an. "Meine Verletzung hat mir gezeigt, dass sich einige Leute nur für mich interessieren, wenn ich erfolgreich bin", schrieb sie.

Stuttgart

Verband sieht "mögliches Fehlverhalten" Immer mehr Turnerinnen erheben heftige Vorwürfe gegen den DTB und den STB

Die ehemalige Stuttgarter Spitzenturnerin Tabea Alt wirft Trainern und Verbänden vor, ihre Gesundheit "gezielt aufs Spiel gesetzt" zu haben. Auch weitere Sportlerinnen wie Carina Kröll, Michelle Timm und Kim Bui melden sich zu Wort.

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Am 28. Dezember veröffentlichte die frühere Stuttgarter Spitzenturnerin Tabea Alt einen Instagram-Post mit konkreten Vorwürfen. "Essstörungen, Straftraining, Schmerzmittel, Drohungen und Demütigungen waren an der Tagesordnung", schrieb sie.

Neben Alt erhob auch Carina Kröll schwere Vorwürfe gegen den DTB. Die 23-Jährige, die bis 2022 für Deutschland an den Start ging und anschließend zum österreichischen Verband wechselte, prangerte vor allem den Leistungsdruck im System Turnen an. So bliebe kaum Zeit, Erfolge wertzuschätzen, weil sofort neue Ziele definiert würden.

Mit Michelle Timm äußerte sich am Sonntag (29. Dezember) eine weitere Turnerin zu den Fehlentwicklungen am Stützpunkt Stuttgart. "Diese jahrelangen Missstände machen Menschen kaputt. Diese emotionale Abhängigkeit ist für Außenstehende kaum zu beschreiben und ich kann gar nicht zum Ausdruck bringen was 'Kinder wie ich' durchlebt haben", schrieb die 27-Jährige auf Instagram.

Ebenfalls am Sonntag äußerte sich Janine Berger. Die Olympia-Vierte von London 2012, die für den SSV Ulm 1846 startet, schrieb auf Instagram: "Es ist Zeit, dass endlich Veränderungen im deutschen Turnsystem passieren. Es ist Zeit, dass der DTB Verantwortung übernimmt und Missstände nicht weiterhin ignoriert werden."

Am 30. Dezember meldete sich mit Eli Seitz die bekannteste deutsche Turnerin zu Wort. Turnen sei ihr Sport, ihre große Leidenschaft und dies wolle sie den vielen Menschen vermitteln, schrieb die 31-Jährige auf ihrem Instagram-Kanal. "Allerdings müssen für die Zukunft Missstände behoben und die Menschen zur Verantwortung gezogen werden, die diese verursachen", forderte die Stuttgarterin.

Es war nur eine Frage der Zeit, dass das Thema aufkommt.

Die ehemalige Top-Turnerin Kim Bui äußert sich gegenüber SWR Sport zu den schwerwiegenden Vorwürfen. "Es verwundert mich ehrlich gesagt nicht. Es war nur eine Frage der Zeit, dass das Thema aufkommt."

Am 31.12. postete die Turnerin Lara Hinsberger ihre Erinnerungen an die Zeit im Kunst-Turn-Forum in Stuttgart. Dort sei sie als 14-Jährige behandelt worden wie ein Gegenstand: "Ich wurde benutzt. Und das so lange, bis ich geistig und körperlich so kaputt war, dass ich für die Trainer (und irgendwann auch für mich selbst) sämtlichen Wert verlor." Mittlerweile startet die gebürtige Saarländerin für den TV Pflugscheid-Hixberg.

Auch das frühere Top-Talent Kim Janas hat öffentlich Missstände im deutschen Turnen angeprangert (07.01.2024). Die 25-Jährige kritisierte vor allem den Umgang mit Verletzungen, Ernährung und Gewicht während ihrer Karriere, die sie nach drei Kreuzbandrissen bereits Ende November 2016 beendet hatte.

Sind solche Vorwürfe im Turnen neu?

Ende 2020 hatten Sportlerinnen des Bundesstützpunktes Chemnitz mit der ehemaligen Schwebebalken-Weltmeisterin Pauline Schäfer-Betz an der Spitze ihrer damaligen Trainerin Gabriele Frehse schwere Vorwürfe gemacht. Sie soll die Turnerinnen im Training schikaniert, Medikamente ohne ärztliche Verordnung verabreicht und keinen Widerspruch zugelassen haben.

Frehse hatte die Vorwürfe stets bestritten. Dennoch lehnte der DTB eine weitere Zusammenarbeit mit ihr ab. Nach einem gewonnenen Rechtsstreit um ihre Kündigung durch den Olympiastützpunkt Sachsen ist Frehse inzwischen Auswahltrainerin der Frauen in Österreich. Zuvor hatte die Staatsanwaltschaft Chemnitz alle Ermittlungen eingestellt.

Schäfer-Betz meldete sich auch in der aktuell Debatte um die Missstände am Bundesstützpunkt Stuttgart zu Wort. Sie prangerte ein "wiederholtes systematisches Versagen" an. Es bleibe ein zentrales Problem, "dass die Personen, die für diese Missstände verantwortlich sind, durch das System gedeckt werden", schrieb die ehemalige Schwebebalken-Weltmeisterin bei Instagram (07.01). "Solange dies der Fall ist, wird es keine wirklichen Veränderungen geben."

Was sagen die Verbände?

Am Samstag reagierten die betroffenen Verbände auf SWR-Anfrage mit einer gemeinsamen Stellungnahme. "Der Deutsche Turner-Bund (DTB) wie auch der Schwäbische Turnerbund (STB) nehmen die öffentliche Debatte und die Vorwürfe zum Thema mentale Gesundheit von Leistungsturnerinnen und -Turnern sehr ernst. In diesem Zusammenhang liegen DTB und STB konkrete Informationen zu möglichem Fehlverhalten von Seiten verantwortlicher Trainer am Bundesstützpunkt in Stuttgart vor."

In einem weiteren Statement vom 31.12. zeigten sich DTB und STB "betroffen über die zahlreichen Äußerungen von Turnerinnen". Gleichzeitig betonten die Verbände, dass "sämtliche Beschwerden und Hinweise ernstgenommen und ihnen nachgegangen wurden und dies auch in Zukunft geschehen wird. Dies betrifft sowohl den Brief von Tabea Alt aus dem Jahr 2021 wie auch beispielsweise die Meldung von Michelle Timm".

Dass dies von den Turnerinnen "teilweise gänzlich anders wahrgenommen wird", bedauern DTB und STB. Es habe in der Vergangenheit zahlreiche Maßnahmen in Folge der Vorwürfe gegeben. Die aktuellen Statements sorgten jedoch dafür, dass die Verbände die Maßnahmen selbstkritisch unter die Lupe nehmen müssten.

Auf SWR-Anfrage zeigte der DTB Verständnis dafür, dass sich Athletinnen an die Öffentlichkeit gewendet hatten und räumte ein, dass es wohl auch nach dem Brief von Tabea Alt zu Verfehlungen gekommen sei.

Wie geht es jetzt weiter?

Als erste konkrete Veränderung im Trainingssystem übernehmen laut STB Turn-Bundestrainer Gerben Wiersma und Nachwuchsbundestrainerin Claudia Schunk ab dem 7.1. Trainingseinheiten. Wie die "Stuttgarter Zeitung" und die "Stuttgarter Nachrichten" am 2.1. berichteten, wurden nun auch erste personelle Konsequenzen gezogen und zwei Personen bis zum 19.1. vorläufig freigestellt. Der Schwäbische Turnerbund teilte auf SWR-Nachfrage mit, er könne aus rechtlichen Gründen dazu keine Stellung nehmen.

Der Verein Athleten Deutschland sieht sich angesichts der Vorwürfe darin bestätigt, dass das unabhängige Zentrum für Safe Sport, welches 2026 in den Regelbetrieb gehen soll, "dringend gebraucht wird". Auch die Umsetzung des kürzlich vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) verabschiedeten Safe Sport Codes müsse "nun zügig, insbesondere auch im Spitzensport" vorangetrieben werden.

Wie die Athletenvertretung am Montag weiter erklärte, müssten aus ihrer Sicht die jüngst publik gewordenen Vorwürfe im Turnen "zügig aufgeklärt und aufgearbeitet werden - auch um fortwährendes Fehlverhalten und damit potenziell andauerndes Leid weiterer Athletinnen zu verhindern". Der Weg zum "angestrebten Kultur- und Strukturwandel im Sport" sei "noch lang", hielt Athleten Deutschland fest.

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Michi Glang