Robert Andrich ist bei der EURO 2024 in der deutschen Nationalmannschaft als "Bodyguard" von Toni Kroos gesetzt. Der Weg zur DFB-Elf war lang für den ehemaligen Heidenheimer.
Robert Andrich hat noch Platz auf seinem Körper. Auf dem linken Bein, direkt über der frisch tätowierten Meisterschale und dem frisch tätowierten DFB-Pokal, wäre noch Raum - zum Beispiel für den Henri-Delaunay-Pokal. Denn schon am Freitag schickt sich der zentrale Mittelfeldspieler von Bayer 04 Leverkusen mit der deutschen Nationalmannschaft an, im Viertelfinale der EURO 2024 gegen Spanien den nächsten Schritt zum großen Traum zu machen.
In Heidenheim werden Chefcoach Frank Schmidt und Innenverteidiger Patrick Mainka dann besonders genau hinschauen. Die beiden haben Andrich in seinem Jahr auf der Ostalb erlebt, kennen und schätzen gelernt. "Ein sehr angenehmer Typ, mit dem man über alles reden kann", erzählte Patrick Mainka am Rande des Trainingsauftakts des 1. FC Heidenheim im Interview mit SWR Sport. Zumindest Abseits des Spielfeldes. "Auf dem Platz ist er wirklich sehr unangenehm." Ehemalige Mitspieler nannten ihn daher "Twoface", nach jenem Batman-Böswicht, der Staatsanwalt und Superschurke in einem Körper vereint.
Robert Andrich hat den harten Weg zur Nationalmannschaft genommen
Andrich galt lange als harter Junge. Ein Image, dass er eine Weile sehr sorgfältig gepflegt hat. Bei Hertha BSC, seiner ersten Profi-Station, kostete er das Berliner Nachtleben ausgiebig aus: "Vier Stunden Schlaf und Mittagsschlaf nach dem Training, das geht schon", sagte er im Mai dem Fußball-Magazin "11Freunde" über den 17-jährigen Andrich. "Für die sportliche Qualität ist das aber nicht förderlich." Nach drei Jahren bei den Hertha-Bubis in der Regionalliga Nordost wechselte er 2014 zu Dynamo Dresden in die 3. Liga. Doch auch dort konnte er sich nicht wirklich durchsetzen. Also zog er weiter zum SV Wehen Wiesbaden - aus Andrichs Sicht sein "wichtigster Transfer". "Von da an ging es bergauf. Ich habe regelmäßig gespielt, und meine heutige Ehefrau habe ich dort auch kennengelernt."
Doch auf dem Platz blieb er eher Superschurke als Staatsanwalt: neun Gelbe Karten und ein Platzverweis in der ersten Saison, zwölf gelbe Karten und zwei Platzverweise in der zweiten. Robert Andrich liebt die Grätsche - auch sie hat er sich als Piktogramm auf die Wade tätowieren lassen, direkt neben die beiden Trophäen: "Wenn man auf den Boden runtergeht, den Ball erwischt und vielleicht sogar einen Konter damit einleitet, dann könnte ich das manchmal wie ein Tor bejubeln. Außerdem kann man den Gegner dabei spüren lassen, dass es heute ein schweres Spiel für ihn wird."
Vor EM-Kracher gegen Spanien Die heiße Phase beginnt: DFB-Team in Stuttgart angekommen
Die deutsche Nationalmannschaft hat ihr Stuttgarter Quartier vor dem EM-Viertelfinale gegen Spanien bezogen. Anders als in der Gruppenphase logiert das DFB-Team dieses Mal in der Nähe des Flughafens.
Heidenheim hatte im Sommer 2018 also ein richtiges Biest verpflichtet: "Biest würde ich nicht sagen, das ist mir viel zu negativ behaftet", sagte sein damaliger Trainer Frank Schmidt im Interview mit SWR Sport. "Ich denke, er ist ein Leader, der alles gibt, der in den Grenzbereich und auch mal darüber hinaus geht. Ganz klar. Der bei uns ein tolles Jahr gehabt und einen wichtigen Entwicklungsschritt gemacht hat, bevor er zu Union Berlin gegangen ist." Union Berlin war Andrichs erste Bundesliga-Station - da war er bereits 25 Jahre alt.
Seinen Spielstil behielt er zunächst bei und sammelte elf Gelbe Karten und einen Platzverweis in der ersten Saison. "Aber ich bin auch ein analysierender Typ und habe irgendwann gemerkt: So cool es manchmal war, der Rowdy und Kämpfer zu sein, es war definitiv zu viel." Im zweiten Jahr entwickelte Andrich zusätzliche Qualitäten. Denn zu seinen noch immer gefeierten Grätschen steuerte er auf dem Berliner Weg in die Champions League fünf Tore und zwei Vorlagen bei. "Er ist einer, der sich in den Dienst der Mannschaft stellt, sich für nichts zu schade ist, der aber auch eine Technik und eine gute Schusstechnik hat", beschreibt Heidenheim-Coach Frank Schmidt.
Europapokal, Titel und Nationalelf-Debüt bei Bayer Leverkusen
Diese Eigenschaften wollte auch Bayer Leverkusen in seinem Kader haben und holte den mannschaftsdienlichen Agressive Leader als Holding Six an den Rhein. Mit der Werkself sammelte Andrich internationale Erfahrung in der Europa League und in der Champions League. Den Superschurken legte er in dieser Zeit Stück für Stück ab. Der Leverkusener Spielstil mit mehr Ballbesitz und weniger Zweikämpfen kommt Andrich dabei sicherlich entgegen, die klare Aufgabenteilung an der Seite der Spielgestalter Granit Xhaka oder Exequiel Palacios ebenfalls. Dass Andrich als deutscher Nationalspieler an der EURO 2024 teilnimmt, war jedoch lange Zeit nicht absehbar, ein Mittelfußbruch warf Andrich zu Beginn der Leverkusener Double-Saison zurück und die Konkurrenz im Nationalteam im mit Leon Goretzka, Joshua Kimmich, Ilkay Gündogan besetzten Mittelfeld schien zu stark für den Spätzünder.
Das änderte sich erst, als Julian Nagelsmann zum Bundestrainer aufstieg und in Fußball-Deutschland gezielt nach Rollenspielern suchte. Im Oktober 2023 hat er Andrich das erste Mal in den DFB-Kader berufen. Kimmich spielt seitdem Rechtsverteidiger, Gündogan auf der Zehn. Goretzka wurde vor der EURO 2024 ausgemustert - Andrich war plötzlich Stammspieler an der Seite von Rückkehrer Toni Kroos. "Schade, dass sein Tor aberkannt worden ist", sagt Schmidt, "sonst wäre er auch schon EM-Torschütze gewesen".
Die Heidenheimer freuen sich über Andrichs Entwicklung: "Es macht uns auch happy und auch ein bisschen stolz, dass ein Ex-Spieler von uns zur Stammformation der deutschen Nationalmannschaft zählt", jubelte Frank Schmidt. Das Viertelfinale gegen Spanien werden er und seine Heidenheimer trotzdem nicht in der Stuttgarter EM-Arena sondern am Fernseher im Trainingslanger in Natz (Südtirol) verfolgen.
Robert Andrich steht dann sicherlich im Fokus seiner ehemaligen Teamkollegen. Patrick Mainka ist überzeugt: "Man kann sich auf und neben dem Platz einfach immer auf ihn verlassen. Ich glaube, er weiß immer um seine Rolle, was seine Stärken sind, was er vielleicht auch nicht kann. Und diese Stärken bringt er immer in die Mannschaft ein. Das hat uns damals geholfen, und das hilft ganz Deutschland jetzt."