Wir erinnern uns an Erinnerungsversionen
Ob man ein Ereignis als schön in Erinnerung behält, hängt nur zum Teil davon ab, ob man es in dem Moment als schön erlebt hat. Das aktuelle Erleben und die Erinnerung daran sind psychologisch tatsächlich zwei paar Schuhe. Die Hirnforschung hat nämlich gezeigt, dass eine Erinnerung jedesmal, wenn wir sie abrufen, neu bearbeitet und abgespeichert wird. Anders gesagt: Woran wir uns erinnern, ist nicht das Ereignis selbst, sondern die letzte Erinnerungsversion, die wir abgespeichert haben.
Fotos halten schöne Erinnerungen lebendig
So kann es passieren, dass wir mit der Erinnerung an ein Erlebnis eine Stimmung assoziieren, die wir in dem Moment gar nicht so erlebt haben. Auch Fotos können diesen Effekt auslösen, denn die meisten von uns fotografieren sehr selektiv die Highlights. Alle lächeln, machen irgendwelche fröhlichen Gesten und wir suchen für Fotos gerne die Highlights heraus und lassen das nicht so schöne außer Acht. Das ist zumindest gutes Erinnerungsmanagement, denn so frischen wir die Erinnerung an die schönen Momente immer wieder auf, während die anderen im Gedächtnis verblassen.
Die Dauer des Ereignisses spielt keine Rolle
Ansonsten gibt es dafür, wie positiv wir Ereignisse in Erinnerung behalten, zwei Gesetzmäßigkeiten, die auch der Psychologe Daniel Kahneman in seinem Buch "Schnelles Denken, langsames Denken" beschrieben hat. Die erste Regel ist: Die Dauer eines Ereignisses spielt keine Rolle – das gilt für positive wie negative Erlebnisse gleichermaßen. Wenn wir mit Schmerzen im Wartezimmer einer Zahnärztin sitzen, sind wir um jede Minute froh, die uns dort erspart bleibt. In der Rückschau spielt die Dauer jedoch keine Rolle mehr. Ob wir eine halbe Stunde oder drei Stunden gewartet haben – die Erinnerung daran wird trotzdem nicht immer schlechter. Umgekehrt, wenn man seinen Urlaub gerne am Strand verbringt, spielt es in der Erinnerung keine Rolle, ob man dort drei Tage oder zwei Wochen verbracht hat. Im Gedächtnis – sozusagen im "mentalen Fotoalbum" – stellt es gewissermaßen ein Bild dar.
Emotional stärkster Moment und Ende des Ereignisses bleiben im Gedächtnis
Die zweite Gesetzmäßigkeit: Wie wir eine Situation oder Erfahrung rückblickend bewerten, wird im Wesentlichen von der Antwort auf zwei Fragen geprägt: Wie angenehm oder unangenehm war der emotional stärkste Moment? Und wie war das Ende? Das ist die sogenannte "Höchststand-Ende-Regel" (peak-end-rule).
Nehmen wir als Beispiel eine Wanderung. Sie führt durch eine mittelmäßig attraktive Landschaft. Aber zwischendurch gibt es ein oder zwei echte Highlights – etwa einen fantastischen Ausblick oder ein Bad im Fluss. Diese Highlights machen zeitlich vielleicht nur einen Bruchteil der Wanderung aus – trotzdem sorgen sie dafür, dass sie schöner in Erinnerung bleibt als vielleicht eine andere Wanderung, die durch eine insgesamt schönere Landschaft führt, bei der aber diese echten Highlights ausbleiben. Denn: Die Peaks – die Höhepunkte des Erlebens – beeinflussen maßgeblich die Gesamterinnerung. Und eben: das Ende.
Ein Urlaub, bei dem die Stimmung anfangs mies war und dann immer besser wurde, wird rückblickend besser bewertet als einer, bei dem es genau andersherum war. Dieses Ende ist für die Bewertung der Erinnerung sogar noch wichtiger als die Peaks.
Und es gibt noch eine tröstliche Nachricht: Positive Höhepunkte bleiben meist länger in Erinnerung als negative: Wenn mir im Urlaub das Portemonnaie gestohlen wurde, ich daneben aber auch unvergessliche Glücks-Momente erlebe, wird auf Dauer der Schmerz über den Diebstahl verblassen (davon habe ich ja vermutlich auch keine Fotos und ich werde die Erinnerung weniger oft abrufen), während die schönen Augenblicke dauerhaft die rückblickende Bewertung prägen werden.
Musik Erinnern sich Finger an erlernte Gitarrenstücke?
Beim Musizieren wird der Musikkontext wiederhergestellt durch das Greifen der Gitarre, durch die ersten Töne. Aber dann passiert noch etwas anderes: Auch wenn Ihnen die Bewegungsmuster selber geholfen haben, es zu erinnern, ist es jetzt wiederum Ihr Gehör über den auditorischen Cortex, über die Musikanalyse, der ihnen signalisiert: Hey, das ist ja das Lied, wonach du gesucht hast. Von Martin Korte