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Mikrokredite – Überschuldung statt Armutsbekämpfung?

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Gerhard Klas
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Candy Sauer

Mikrokredite galten lange als Wunderwaffe gegen Armut. Doch am Beispiel von Kambodscha zeigt sich die Kehrseite des Konzepts, an dem auch deutsche Investoren verdienen.

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Umstritten: Friedensnobelpreis für Mikrofinanz-Idee

Der bengalische Wirtschaftswissenschaftler Mohammed Yunus gilt als einer der Begründer der Mikrofinanz-Idee. 2006 wurde Yunus dafür mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Doch schon damals war der Preis nicht unumstritten, weil, so die Befürchtung mancher Kritiker, auch diese Schulden Menschen zum Teil noch tiefer in die Armut führen würden.

Seitdem ist die Mikrofinanzindustrie in Ländern wie Indien und Bangladesh weiter in die Kritik geraten. Seit einigen Jahren warnen Menschenrechtsorganisationen wie FIAN und Human Rights Watch nun vor den Folgen einer massenhaften Überschuldung in Kambodscha.

Viele überschuldete Kreditnehmer in Kambodscha

Kambodscha gilt als Goldgrube der Mikrofinanz: Mehr als hundert Banken und Mikrofinanzinstitute versuchen in dem südostasiatischen Land, so viele Kreditverträge wie möglich unter die 17 Millionen Einwohner zu bringen. Viele Kreditnehmer sind überschuldet. Am Beispiel Kambodschas zeigen sich die negativen Seiten am Prinzip der Mikrokredite. 12 Milliarden Euro an Krediten sind dort in Umlauf, das entspricht etwa der Hälfte des Bruttosozialprodukts des kleinen Landes.

In Kambodscha gibt es keinen funktionierenden Rechtsstaat und keine unabhängige Gerichtsbarkeit. Korruption und Vetternwirtschaft sind an der Tagesordnung. Gesundheits- und Bildungssystem liegen am Boden. Die Terrorherrschaft der Roten Khmer, für die in der zweiten Hälfte der 1970er ein Viertel der Bevölkerung mit dem Leben bezahlen musste und für die kaum jemand strafrechtlich belangt worden ist, wirkt als kollektives Trauma fort.

Hohe Schulden durch Mikrokredite treiben Menschen in den Selbstmord

Die Familie von Kwak Nga gehört zu den Tampuan; das ist eine indigene Gruppe im Nordosten Kambodschas, nahe der vietnamesischen Grenze. Ihr Mann war hoffnungslos überschuldet bei LOLC, einem der führenden Mikrofinanzinstitute in Kambodscha.

Mein Mann sagte immer: Egal, wie viel wir ihnen schulden, wir werden hart arbeiten, auf den Feldern anderer Bauern und auf unserem eigenen Acker. Jetzt hat er sich das Leben genommen und ich weiß nicht, wie ich diese Arbeit allein schaffen soll.

Trotz der harten Arbeit hatten Kwak Nga und ihr Mann am Essen gespart, mussten sich Geld bei Verwandten und privaten Kredithaien leihen. Nichts ließen sie unversucht, um die monatlichen Raten von 650 Dollar zu stemmen – der gesetzliche Mindestlohn liegt bei 200 Dollar. Erst in den Monaten vor seinem Tod hatte LOLC Cambodia dem Ehemann noch einen Kredit gewährt, der seine Schulden bei dem Mikrofinanzier auf mehr als 18.000 Dollar verdreifacht hatte.

Erst im Frühjahr 2023, vier Monate nach dem Tod des Mannes und nachdem die Menschenrechtsorganisation Licadho die Geschäftsführung von LOLC anschrieb, ließen die Mitarbeiter des Instituts davon ab, die ausstehenden Raten bei der Witwe einzufordern.

In Kambodscha gibt es zwar offiziell eine Zinsobergrenze von 18 Prozent. Durch diverse Gebühren sind die Kosten des Kredits meist aber viel höher. Viele Kleinunternehmer können dann trotz harter Arbeit ihren Verpflichtungen irgendwann nicht mehr nachkommen.
In Kambodscha gibt es zwar offiziell eine Zinsobergrenze von 18 Prozent. Durch diverse Gebühren sind die Kosten des Kredits meist aber viel höher. Viele Kleinunternehmer können dann trotz harter Arbeit ihren Verpflichtungen irgendwann nicht mehr nachkommen.

Mikrofinanzinstitute mit Gütesiegel: keine Garantie für Fairness

Solche Schuldenfälle sind nur die Spitze des Eisbergs, erklärt Naly Pilorge von der kambodschanischen Menschenrechtsorganisation Licadho, die in ihren Publikationen seit vielen Jahren auf die Überschuldung durch Mikrofinanzinstitute (MFI) hinweist.

LOLC Cambodia befindet sich im Besitz einer sri-lankischen Holding-Gruppe und hat 2022 einen Gewinn von knapp 60 Millionen Dollar erzielt. Das MFI schmückt sich mit einem angesehenen Gütesiegel für Kundenschutz, einem Zertifikat von Cerise+SPTF. Das Konsortium gilt als Weltmarktführer für soziale und ökologische Zertifizierung. Die Soziologin Sophia Cramer forscht seit mehr als zehn Jahren zu Mikrokrediten und ist skeptisch:

Selbst wenn diese Organisationen diese Zertifizierung haben, heißt das noch nicht, dass damit wirklich gewährleistet ist, dass die Kundinnen fair behandelt werden und nicht überschuldet werden. Das zeigt [...] das Beispiel Kambodscha besonders deutlich.

Nachdem Ende Oktober 2023 der britische Guardian einen langen Artikel über mehrere Selbstmordfälle von überschuldeten Kreditnehmern in Kambodscha veröffentlichte, kündigte Cerise+SPTF an, die Zertifizierung für LOLC und weiteren kambodschanischen Mikrofinanzinstituten zu überprüfen. Auch Investoren in Deutschland, die sich als ethisch und nachhaltig bezeichnen und Mikrofinanzinstitute wie LOLC finanzieren, werben mit diesen Zertifizierungen um Anleger – etwa das Frankfurter Unternehmen Invest in Visions, die Bochumer GLS-Bank und die Kreditgenossenschaft Oikocredit.

Gutes tun und Rendite kassieren?

Fair Investieren, das ist die Idee hinter Oikocredit und anderen ethischen Finanzorganisationen und Banken: Kunden sollen ihr Geld anlegen und Gutes bewirken. Auch Gelder der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau KfW sind über die Microfinance Enhancement Facility, einen im Steuerparadies Luxemburg notierten Fond, bei LOLC investiert. Mikrokredite sind zu einem gefragten Bestandteil der Entwicklungshilfe geworden, für Sophia Cramer wenig verwunderlich:

Erstens gibt es ein sehr verführerisches, anschlussfähiges Narrativ: das Narrativ der Hilfe zur Selbsthilfe. [...] Und zweitens kann man das Ganze kostenneutral machen und sogar noch Gewinne daraus ziehen. [...] Sich aus der Armut zu befreien, ist dann in der Verantwortung des einzelnen Kreditnehmenden.

Kambodscha: hohe Zinsen, keine gesetzliche Pfändungsgrenze

Und die Kreditnehmenden müssen hohe Zinsen zahlen: In Kambodscha gibt es zwar offiziell eine Zinsobergrenze von 18 Prozent. Durch Gebühren und Kommissionszahlungen sind die Kosten des Kredits in der Regel aber viel höher, bis zu acht Prozent dürfen die Mikrofinanzinstitute laut ihrem kambodschanischen Dachverband zusätzlich erheben.

Die Zinsen im Mikrofinanzsektor sind sehr hoch, weil die Mikrofinanzorganisationen daraus nicht nur ihre Betriebskosten decken, sondern darüber auch Zinszahlungen, die sie ihrerseits wiederum an die Investoren leisten müssen. [...] Das sind zum Beispiel zirka neun Prozent im Fall der Microfinance Enhancement Facility [...] 2019 hat die Microfinance Enhancement Facility rund 50 Millionen US-Dollar Zinseinnahmen erhalten. Mehr als die Hälfte davon schüttet sie als Dividende aus, also auch an die Kreditanstalt für Wiederaufbau und das BMZ.

"Gigantische Umverteilung: vom globalen Süden in den globalen Norden"

BMZ – das ist das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Mehrere hundert Millionen Euro staatlicher Gelder u.a. aus Deutschland stecken in kambodschanischen Mikrofinanzinstituten. Und nicht nur solche staatlichen, auch die sogenannten nachhaltigen und ethischen Investoren kassieren sechs Prozent und mehr Zinsen von den Mikrofinanzinstituten. Mit jeweils 60 Millionen gehören Oikocredit und "Invest in Visions" dabei zu den größten dieser Privatinvestoren in Kambodscha. Die GLS Bank hat fünf Millionen investiert – ausschließlich beim MFI LOLC. Gutes zu tun und Rendite kassieren – dieses Versprechen geht für Soziologin Sophie Cramer nicht auf:

Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie investieren in einen deutschen Mikrofinanz-Fonds. Sie erhalten zwei Prozent Dividende. Aber woher kommt denn eigentlich diese Dividende? Letztlich haben wir durch die Zinszahlung der Kundinnen [...] eine gigantische Umverteilung. Man könnte sagen, etwas pauschal: vom globalen [...] Süden in den globalen Norden.

Reaktionen von Investoren und BMZ

Die Berichte über Suizide von hochverschuldeten Kreditnehmern in Kambodscha sind alarmierend. SWR2 Wissen hat bei einigen Investoren und beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) nachgefragt. Mehr zu den Reaktionen erfahren Sie im Audio.

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