Donaueschinger Musiktage 2013 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2013: "Debatte"

Stand
AUTOR/IN
Kirsten Reese
Enrico Stolzenburg

Stolzenburg:
Es gibt Leute, die diskutieren. Zuhause oder am Stammtisch – dem vielzitierten –, in einem Stadtparlament oder in einer Kaffeepause. Und dann gibt es die Rede oder den Regierungssprecher auf der Pressekonferenz oder die Straße, auf der eine Menge zum Umsturz der Ordnung aufruft, oder da ist jemand, der laut eine Frage brüllt. Immer ist es eine menschliche Stimme, die mich berührt. Eine Stimme, die spricht, die ruft, betet oder diskutiert. Eine Stimme und kein Bild.

Reese:
Wir haben Ausgangsmaterial, das ausschließlich aus Aufnahmen menschlicher Stimmen besteht. Gesprochene Sprache. Dieses Material ist zunächst einmal sehr heterogen. Mich interessiert, was passiert, wenn man es zusammenfügt, wenn man also Verbindungen knüpft, derart, dass es in einem Raum hintereinander gespielt wird, dass es ausgewählt und bearbeitet ist. Dann entstehen plötzlich ganz verschiedene Ebenen, auf denen man als Zuhörer andockt – an die historischen Tondokumente anders als an die aktuellen, weil damit auch immer eine persönliche Wahrnehmung von Geschichte oder von politischen Ereignissen verknüpft ist. Zum Teil spielt dabei auch das Medium eine Rolle. Man hört es dem Material an, ob es beispielsweise im Radio lief oder ob es für eine Schallplatte extra produziert wurde. Besonders aber fasziniert mich unser Vermögen, heraushören zu können, was die Stimme an Zeitlichkeit übermittelt. Die Stimme selbst, also wie gesprochen wird. Im Vordergrund steht dabei gar nicht der Inhalt als vielmehr die Art und Weise des Sprechens. Und mich interessiert die Frage, wie weit sich diese Verbindungen bilden, die der Hörer knüpft, auch bei viel kürzeren Ausschnitten – wenn plötzlich ein Wort allein steht oder wenn es nur ein Zögern gibt, ein Stottern, ein Warten. Spannend ist es zudem, in einem Interview nachzuspüren, an welchen Stellen Leute nachdenken, wann sie einen wichtigen Gedanken hervorbringen, wann sie selbst berührt sind von dem, was sie in dem Moment jemand anderem mitteilen wollen. Darüber hinaus beschäftigt mich, inwieweit man solche Metainformationen aus dem Material herauslösen kann, quasi beispielhaft für bestimmte Kommunikationssituationen. Das Bearbeiten der Aufnahmen geht zum Teil so weit, bis da nur noch Klang ist, also bis man gar nicht mehr verstehen kann, was die Stimme in einer Rede sagt, bis purer Rhythmus bleibt oder man nur noch die Reaktionen der Zuschauer wahrnimmt.

Stolzenburg:
Die Zusammenstellung und Auswahl der Dokumente ist ganz subjektiv. Die Texte werden inszeniert oder bearbeitet und die Klänge in verschiedenen Situationen im Rathaussaal arrangiert. Hier ist überraschend, wie man das Material im Raum wahrnimmt. Es gibt diese Sätze, die in ihrer Wirkung nur als gesprochenes Wort funktionieren. Geschrieben wären es tatsächlich nur Worthülsen. Oder es wäre Kitsch oder lächerlich oder zu klein. Aber in Verbindung mit der Stimme und der Situation, in der sie gesagt werden, geht das plötzlich. Das sind diese Momente, die besonders berührend sind, wenn ein Gefühl plötzlich ganz stark hörbar ist.

Auszug aus den verwendeten Quellen und Materialien:

Revolutionäre Rede Friedrich Heckers, 12. April 1848

Reichstagsdebatte 158. und 159. Sitzung, Berlin, 10. und 11. November 1908

Predigt des Stadtpfarrers Dr. Heinrich Feuerstein, Donaueschingen, 1. Januar 1942

Bertolt Brecht vor dem Ausschuss für „unamerikanische Umtriebe“, Washington, D.C., 30. Oktober 1947

Die letzte Rede Salvador Allendes, Santiago de Chile, 9. September 1973

Rede von Semiya Simsek und Gamze Kubasik auf der Gedenkveranstaltung für die Mordopfer des NSU, Berlin, 23. Februar 2012

Predigt Papst Franziskus zu seiner Amtseinführung, Rom, 19. März 2013

Beiträge zur #aufschrei – Debatte, Twitter, seit April 2013

Interviews mit Herbert Baier und Günther Reichelt, Donaueschingen, 22. und 23. Mai 2013

Störaktion von Márton Gulyás im „Ungarischen Theater“, Budapest, 24. Mai 2013

Proteste auf dem Taksim-Platz, Istanbul, 31. Mai 2013

Interview mit Prof. Dr. Lilli Gast, Berlin, 4. Juni 2013

Brandon LaBelle „Diary of an Imaginary Egyptian“, Berlin, 18. Juli 2013

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Kirsten Reese
Enrico Stolzenburg