Buchkritik

Sigrid Nunez – Die Verletzlichen

Stand
Autor/in
Ulrich Rüdenauer

New York im Lockdown: Eine namenlose Erzählerin hütet die Wohnung einer Freundin samt Papagei. Ein neuer, junger Mitbewohner kommt dazu, und neue Dynamiken entwickeln sich. Nicht im Sinne einer wirklichen Handlung, aber auf der Ebene der Reflexionen und Erinnerungen. Eines der faszinierendsten Bücher über die Corona-Pandemie.

Sigrid Nunez erzählt in ihrem neuen Roman weniger eine Geschichte, vielmehr einen Zustand: Eine Universitätsdozentin und Schriftstellerin bleibt im Frühjahr 2020 als eine der wenigen aus ihrem Bekanntenkreis in New York zurück.

Covid 19 hat die Metropole leergefegt. Wer es sich leisten kann, hat den amerikanischen Melting Pot der Pandemie verlassen, sich in ein Landhaus zurückgezogen oder in luxuriösen Penthouses verbarrikadiert. Sich vor dem Virus zu schützen, ist auch eine Klassenfrage:

Die Mittelschicht versteckt sich, während die Arbeiterklasse ihnen die Sachen bringt.« Eine andere Version: Weiße verstecken sich, während schwarze und braune Menschen ihnen die Sachen bringen.

Strategien gegen den Lockdown

Für die Mittsechzigerin ist es ein Segen, dass die wohlhabende Freundin einer Freundin, die in Kalifornien bei ihrem Schwiegervater gestrandet ist, eine Sitterin für ihren anspruchsvollen Papagei sucht.

Ein Mittel gegen viele Krankheiten wird es genannt. Für die Linderung von Stress und Angst; als Trost bei einem Trauerfall, bei Traurigkeit und Verlust: Finde jemanden, der deine Hilfe braucht. Es waren nicht nur in Isolation lebende Menschen, die sich während des Lockdowns dafür entschieden, ein Tier zur Pflege aufzunehmen oder zu adoptieren.

Die Erzählerin zieht in das Luxusapartment der Bekannten, findet Trost und Erfüllung darin, mit dem Ara namens Eureka Freundschaft zu schließen, ihn nicht nur zu füttern, sondern vor allem zu unterhalten – ein intelligentes Tier, dem Langeweile zusetzen würde. Eine Win-Win-Situation also.

Eigentlich ist das fast alles, was in diesem Roman geschieht. Aber natürlich ereignen sich die eigentlichen Dinge unter der Oberfläche, und nicht nur die Nähe zu einem Tier, sondern auch die Themen, die verhandelt werden, erinnern an Nunez‘ Erfolgsroman „Der Freund“: „Die Verletzlichen“, der Titel spielt auf die vulnerable Gruppe von Menschen an, zu denen auch die Erzählerin gehört, ist ein geradezu kathartisches Buch.

Ein kathartisches Buch über das Erinnern

Es geht um das Erinnern; das Ich erinnert sich an eine gerade verstorbene Freundin, an Gespräche, an die Kindheit. „Ich erinnere mich“ heißt ein Buch von Joe Brainard, das für die Erzählerin eine immense Bedeutung hat. Wie überhaupt Bücher und Autoren in „Die Verletzlichen“ die Sonden sind, mit denen in Themen wie Einsamkeit, Alter, Krankheit und Tod vorgedrungen wird – mit einem hellwachen interessierten Blick, mit einer unabdingbaren Melancholie.

Von Georges Perec über Joan Didion bis zu Günter Grass reichen die Referenzen, ein Lexikon der Vergewisserung, aber auch die Suche nach Erlösung von der Ungewissheit. Wenn die Gegenwart ereignislos oder absurd wird – Donald Trump lügt sich gerade durch seine Regierungszeit –, übernimmt die Erinnerung.

Die eigenen Archive werden nach und nach geöffnet, um zu sehen, welche hilfreichen Entdeckungen darin zu machen sind. Und dann gibt es doch noch ein Ereignis, das die Erzählerin verstört, gar aus der Bahn wirft.

Ein junger, gut aussehender, höchst privilegierter Collegestudent, der sich zunächst um den Papagei kümmern sollte, aber dann überstürzt abgereist war, kehrt in die Wohnung zurück.

(…) die Wohnung ist auch groß genug für uns beide. Aber es ist so anders, wenn er da ist. Er kann nichts dafür, ich weiß, aber die ganze Wohnung ist voller Testosteron. Violet lachte. Das ist das eigentliche Problem, nicht wahr, sagte sie. Da lebst du in großer Nähe zu diesem sehr attraktiven, sehr sexy jungen Mann, eine unübersehbare Erinnerung an das, was du nicht mehr haben kannst, was du verloren hast, dieser aufregende Teil des Lebens, der jetzt hinter dir liegt und nie wiederkommt, und obwohl es nicht sein Fehler ist, gibst du ihm die Schuld.

Eines der besten Bücher über die Coronajahre

Durch die unfreiwillige Wohngemeinschaft bekommen das Denken und die Lage der Schriftstellerin noch einmal einen neuen Dreh, eine neue Dynamik, möglicherweise gibt es auch so etwas wie Läuterung. Aber das wird nur angedeutet, wie dieses Buch ohnehin ein sehr subtiler Versuch ist, Außen- und Innenwelt in einem unvorstellbaren Moment abzubilden.

Einen Roman mit Handlung sollte man deshalb nicht erwarten: Anekdoten und Denkbewegungen, Erinnerungen und Zweifel, Wirklichkeitsschock und Wirklichkeitsflucht werden zu einer Erfahrung gebündelt und in einer Erzählerin verdichtet, die außerhalb der Zeit steht – wie wir in der Pandemie alle aus unserer Zeit geworfen waren.

„Die Verletzlichen“, hervorragend übersetzt von Anette Grube, ist eines der besten Bücher, das bislang über die Coronajahre erschienen ist.

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Ulrich Rüdenauer