Im April 1981 starb der 23-jährige Matthias Domaschk in Gera in der Untersuchungshaft der Stasi. Sein Tod war ein schockierendes Ereignis für seine Freunde, mit langanhaltenden Konsequenzen. Was aber genau führte zu diesem Moment? Der Journalist und Autor Peter Wensierski, der seit Jahrzehnten auch in Stasi-Unterlagen recherchiert, hat sich an die Rekonstruktion des Lebens und der letzten Tage von Matthias Domaschk gemacht.
Ch. Links Verlag, 368 Seiten, 25 Euro
ISBN 978-3-96289-186-2
Der 1954 geborene Peter Wensierski war einige Jahre beim ARD-Magazin "Kontraste" beschäftigt, bevor er vor 30 Jahren die Fernsehwelt für die Printwelt tauschte und beim "Spiegel" anfing. Neben seiner journalistischen Tätigkeit hat er zahlreiche Bücher verfasst, ganz aktuell: "Jena-Paradies. Die letzte Reise des Matthias Domaschk" - Conrad Lay.
Ähnlich wie der Tod Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 Auslöser für die Studentenrevolte der späten sechziger Jahre war, so hatte der Tod von Matthias Domaschk im April 1981 in Jena eine erhebliche Wirkung auf die Oppositionsbewegung in der DDR. Die subkulturelle Hippie- und Jugendszene Jenas verwandelte sich in eine politische Oppositionsbewegung, die die folgenden neun Jahre bis zum Ende der DDR äußerst aktiv war.
Zwei Jahre nach dem Tod von Domaschk in einem Stasi-Knast stellten Berliner Stasi-Generäle fest: „Jena ist gegenwärtig das Zentrum der Opposition in der DDR.“
Der langjährige Spiegel-Journalist Peter Wensierski hat nicht nur die oppositionelle Jugendszene minutiös dargestellt, sondern auch die Reaktion von Geheimdienst und Polizei. 160 Zeitzeugen hat er befragt und zusätzlich noch 30 ehemalige Stasi-Mitarbeiter, die Matthias Domaschk in seinen drei letzten Lebenstagen verhörten.
Als im Januar 1990 die Stasi-Zentrale in Berlin besetzt wurde, war auf der Hauswand direkt unter dem Büro von Stasi-Minister Erich Mielke zu lesen: „Ihr habt Matthias Domaschk ermordet!“ Und der letzte Vernehmer von Domaschk gibt im Gespräch mit Peter Wensierski zu, dass er den aufmüpfigen jungen Domaschk, der eigentlich nur zu einer Party von Gleichgesinnten in Berlin reisen wollte, in den Selbstmord getrieben habt.
Der Stasi-Mann bereut das, ein anderer Stasi-Mann, der Domaschk in die Zange genommen hatte, bereut gar nichts, wird nach 1989 Immobilienmakler in West-Berlin; seine verhängnisvolle Stasi-Tätigkeit wird erst zwei Jahrzehnte später von dem Taz-Journalisten Max Thomas Mehr aufgedeckt.
Derweil stellte die Staatsanwaltschaft in Gera das Verfahren gegen die Stasi-Leute „wegen mangelnder Verdachtsmomente auf strafbares Handeln“ ein. Soweit das unrühmliche Nachspiel.
Doch vielleicht noch spannender als die Stasi und ihre Hirngespinste einer terroristischen Bedrohung durch Matthias Domaschk und seine Freunde ist die äußerst lebendige, von Wensierki bis ins Detail dokumentierte Jugendszene Jenas: „cool sein und verrückt danach, zu leben“ – das ist das Motto der Jugendlichen. Allzu verführerisch sind diese sogenannten „offenen Wohnungen“, in denen man mit allen möglichen Leute ins Gespräch kommen kann.
„Mensch, der hat ‚ne WG!“ bewundern die jüngeren die wenige Jahre älteren Szene-Mitglieder, weil diese WGs – so ist man sich unter den Jugendlichen einig – „ne Insel der Freiheit, zum Quatschen, zum Träumen, zum Leben sind“. Es sind die „wunderbaren Jahre“, über die der Schriftsteller Reiner Kunze später schreiben wird.
Der Kontrast könnte kaum größer sein zwischen diesem kreativen, bunten, auch lauten Leben in der Jenenser Jugendszene und der Einöde der Stasi-Leute, die sich an Porno-Filmen ergötzen und darin überbieten, wer welche Frau ins Bett geschleppt hat. Natürlich ohne zu versäumen, am nächsten Morgen eine Karteiauskunft einzuholen, um zu sehen, mit wem „man“ die Nacht verbracht hat.
Dabei finden die Stasi-Leute durchaus Unterstützung in der Bevölkerung: nicht wenige Thüringer rufen den sog. „Gammlern“ nach: „Ihr seht doch aus wie die Affen! Euch hat man wohl vergessen zu vergasen.“ Derweil lassen sich die jungen Jenenser von der Westberliner Szene anstecken und hören begeistert den Rauch-Haus-Song „Der Mariannenplatz war blau“ von Ton Steine Scherben.
Doch am Ende steht die Erkenntnis, dass die Stasi es geschafft hat, einen Menschen zu zerbrechen. Der Dissident Roland Jahn bringt es auf den Punkt: „Wir wussten nun, dass auch der Tod am Ende unserer Auseinandersetzung mit der Diktatur stehen konnte.“ Peter Wensierski hat eine äußerst eindrückliche Studie über das oppositionelle Jugendmilieu des letzten DDR-Jahrzehnts verfasst. Unbedingt lesenswert!