Buchkritik

Lea Ypi – Die Architektonik der Vernunft

Stand
Autor/in
Günter Kaindlstorfer

Zu Immanuel Kants 300. Geburtstag beschäftigt sich die britisch-albanische Philosophin Lea Ypi mit einem lange vernachlässigten Abschnitt in der „Kritik der reinen Vernunft“.

„Was kann ich wissen?“ In seinem erkenntnistheoretischen Hauptwerk – der „Kritik der reinen Vernunft“ – hat sich Immanuel Kant auf 800 Seiten mit dieser Frage auseinandergesetzt. Kants Antwort, vereinfacht gesagt: Die „Dinge an sich“ – soll heißen: die Dinge, wie sie wirklich sind – sind für den Menschen wissenschaftlich nicht erkennbar. Objektiv erkennbar seien nur die „Erscheinungen“ der Dinge. Und diese „Erscheinungen“ würden durch die Anschauungsformen von Raum und Zeit und durch bestimmte Kategorien, die dem menschlichen Denkvermögen von Natur aus eingeschrieben sind, determiniert. Das wahre Wesen der Dinge, so der Königsberger Philosoph, sei dem Menschen unzugänglich. Zitat Kant: 

Was die Dinge an sich sein mögen, weiß ich nicht und brauche es nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders als in der Erscheinung vorkommen kann.

Das Ding an sich bleibt uns verborgen 

Mit diesem Postulat hat Immanuel Kant die erkenntnistheoretichen Grundlagen der modernen Philosophie gelegt. Für Arthur Schopenhauer war die „Kritik der reinen Vernunft“ das „wichtigste Buch, das jemals in Europa geschrieben worden ist“.  

Die albanisch-britische Philosophin Lea Ypi widmet sich in ihrer Studie einem kurzen, bisher wenig beachteten Abschnitt in Kants Hauptwerk – dem Kapitel „Die Architektonik der Vernunft“; längenmäßig macht dieser Abschnitt nur etwa zwei Prozent der „Kritik der reinen Vernunft“ aus. Lea Ypi schreibt dazu:  

Die ,Architektonik der reinen Vernunft‘ gehörte bis vor Kurzem zu den am wenigsten gelesenen Teilen von Kants erster Kritik (…)  
Traditionell scheinen die wenigen Kommentare zu diesem Abschnitt mit Schopenhauers frühem Urteil übereinzustimmen, dass seine Existenz in der Kritik der reinen Vernunft vorrangig auf Kants ,Liebe für architektonische Symmetrie‘ zurückzuführen sei und dem Rest dieses Hauptwerks nichts Wesentliches hinzufüge.“

Fokus auf die Einheit der Vernunft 

Das sieht Lea Ypi, profunde Kant-Kennerin, die sie ist, anders. Die „Architektonik“ sei einer der „dichtesten, rätselhaftesten und undurchdringlichsten Texte“ in Kants Gesamtwerk, ohne genaue Analyse dieses Texts ließe sich Kants berühmtestes Werk nicht verstehen: 

Im Gegensatz zur großen Mehrheit der Kommentatorinnen, die die »Architektonik« schlichtweg verworfen haben, versuche ich zu zeigen, dass ihr Fokus auf die Einheit der Vernunft entscheidend ist, um einige der wichtigsten Ideen Kants zu erhellen. Dazu gehören unter anderem der Übergang vom System der Natur zum System der Freiheit, das Verhältnis von Glauben und Wissen, die philosophische Verteidigung des historischen Fortschritts und die Rolle der Religion. Diese Fragen haben bekanntlich die nachfolgende deutsche philosophische Tradition maßgeblich geprägt.“

Lea Ypis Buch richtet sich an eine philosophisch gelehrte Klientel, an ein Publikum, das die „Kritik der reinen Vernunft“ sozusagen im kleinen Finger hat. Kant-Anfängerinnen und -Laien werden sich mit der Lektüre wohl schon nach wenigen Seiten überfordert fühlen. 

Harte philosophische Kost 

Gut denkbar, dass der Band in Kant-Seminaren und epistemologischen Kolloquien ein gewisses Entzücken hervorruft. Philosophische Normalverbraucher:innen werden allerdings gut daran tun, Kants Dreihundertsten Geburtstag mit der Lektüre eingängigerer Werke zu zelebrieren. Die Kant-Experten Otfried Höffe und Marcus Willaschek haben zum Geburtstag des Königsberger Meisterdenkers schon im letzten Jahr erhellende Neuerscheinungen vorgelegt.  

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C.H. Beck Verlag, 192 Seiten, 20 Euro
ISBN 978-3-406-80746-6

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Günter Kaindlstorfer