Im Zentrum steht die „Weisheit vom Menschen“: Mit dreitausend Gleichgesinnten gründete der Philosoph Steiner in Köln die Anthroposophische Gesellschaft.
Heute hat die Anthroposophische Gesellschaft über 50.000 Mitglieder
Der Religionswissenschaftler Helmut Zander beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Rudolf Steiner: „Seine zentrale Idee war, dass das Geistige und das Materielle eigentlich zwei Seiten einer Medaille sind. Und geistig heißt bei ihm, Einsicht in übersinnliche, höhere, eben geistige Welten. Das ist – glaube ich - das Zentrum der Anthroposophie.“
Um diese Weltanschauung zu vertiefen und zu verbreiten, gründet der Philosoph und Naturwissenschaftler Rudolf Steiner am 28. Dezember 1912 mit rund 3000 Anhängern in Köln die Anthroposophische Gesellschaft. Heute hat sie rund 50.000 Mitglieder weltweit.
Steiner ist ein Mann der Tat: Er entwickelt die Waldorf-Pädagogik und gründet Schulen. Etwa 1100 Waldorfschulen weltweit, davon rund 245 in Deutschland, lehren auch heute noch Rudolf Steiners Ideen von höheren Sphären und Reinkarnation.
Steiners Lehren prägen auch andere Lebensbereiche: Was heute bei manchen Bauern unter dem Stichwort „öko“ populär ist, praktizieren Anthroposophen seit den 1920er Jahren: eine biologisch-dynamische Landwirtschaft.
Zahlreiche anthroposophische Mediziner*innen distanzieren sich von Maskenpflicht, Abstandsregeln und Impfung
Auch in der Medizin entwickelt die Anthroposophie eigene Methoden. In mehreren Krankenhäusern in Deutschland und auch ambulant heilen Ärzte nach ihren Grundsätzen. Professor Alfred Längler ist leitender Arzt für Kinder-Onkologie am Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke. Er sieht die ganzheitliche Betrachtungsweise der Anthroposophie nicht als reine Alternative, sondern als Ergänzung zur sogenannten Schulmedizin.
Nicht alle Anthroposoph*innen positionieren sich klar zu Schulmedizin und Anthroposophischer Medizin: Das zeigt die aktuelle Corona-Pandemie. Während der DAMID, der Dachverband der anthroposophischen Medizin in Deutschland, die Maßnahmen von Robert Koch Institut und Politik unterstützt, distanzieren sich andere anthroposophische Mediziner*innen davon – z.B. bei sogenannten Hygiene-Demos.
Dort beschwören sie die Selbstheilungskräfte des Menschen und lehnen Maskenpflicht, Abstandsregeln und auch die Impfung strikt ab. Religionswissenschaftler Helmut Zander: „Das anthroposophische Milieu ist hochdifferenziert zwischen offenen, linken, bürgerlichen, grünen Anthroposophen und einer Betonfraktion auf der anderen Seite.“
Eine Spannung zwischen freier Erkenntnis und übersinnlichem Wissen
Die anthroposophische Weltanschauung von Rudolf Steiner ist eingezogen in Bildung, Wissenschaft und Wirtschaft – in homöopathischen Dosen. Mal ergänzend, mal im Vordergrund.
Während das Eine leichter akzeptiert wird, stößt das Andere häufiger auf Widerstand, wird als esoterische Spinnerei gesehen, als Dogma eines Einzelnen. Helmut Zander kommentiert dies so: „Bis heute finde ich diese Spannung in der Anthroposophie wieder: Es gibt auf der einen Seite die Rhetorik des Individuums, der individuellen, freien Erkenntnis und auf der anderen Seite die Rhetorik des übersinnlichen Wissens, die man eben grade nicht nur individuell erlangt, sondern wozu man einen Lehrer – zumindest aber die Schriften Steiners – benötigt.“