Aus dem Krieg in eine fremde Zauberwelt
Japan im Zweiten Weltkrieg: Nachdem Mahito in den Flammen eines Bombenangriffs seine Mutter verliert, beschließt sein Vater, die jüngere Schwester seiner toten Frau zu heiraten. Mahito soll zu seiner Tante und neuen Mutter Natsuko aufs Land ziehen.
Doch auf dem Anwesen der Familie geschehen seltsame Dinge. Ein Graureiher haust in einem verlassenen Turm, der einst der Familie gehörte und kommt dem Jungen immer wieder seltsam nahe. Als der Vogel zu sprechen beginnt, verwickelt er den Jungen in ein Abenteuer, das ihn und seine Tante in eine fremde, magische Welt entführen wird.
Weder Trailer noch Marketing-Aktionen gab es in Japan vor Kino-Premiere von „Der Junge und der Reiher“, lediglich ein einziges Vorab-Plakat. Und trotzdem startete der Film mit einem Rekord-Einspielergebnis von 13,2 Millionen US-Dollar. Der Grund: Der Name seines Regisseurs Hayao Miyazaki war selbst der beste und einzig nötige Werbung für den Film.
„Chihiros Reise ins Zauberland“ brachte Miyazaki Weltruhm
Miyazaki, Jahrgang 1941, ist in Japans reger Animationslandschaft eine lebende Legende. Anfang der 2000er-Jahre bringt ihm „Chihiros Reise ins Zauberland“ die verdiente Anerkennung für ein einmaliges filmisches Œuvre: Er erhält sowohl den Goldenen Bären der Berlinale als auch den Oscar für den besten animierten Film. 2024 erhielt er ihn nun zum zweiten Mal für „Der Junge und der Reiher“.
Seine Karriere startet Miyazaki Anfang der 1960er-Jahre als Animator für Zeichentrickserien. Eine unter ihnen wird auch in deutschen Kinderzimmern zum Hit: „Heidi“ nach dem gleichnamigen Kinderbuch von Johanna Spyri.
Die Musik der Filme von Studio Ghibli bei Score Snacks
Den Durchbruch als ernstzunehmender Anime-Regisseur bringt 1984 „Nausicaä aus dem Tal der Winde“. Miyazaki adaptiert hier eine eigene Geschichte, die er zuvor als Manga-Comic veröffentlicht hatte. Die Themen des Films – die Zerstörung der Umwelt, die Grausamkeit des Kriegs und das Leben im Einklang mit der Natur – prägen seine Werke bis heute.
Der finanzielle Erfolg von „Nausicaä“ erlaubt Miyazaki und seinem Weggefährten Isao Takahata die Gründung ihres eigenen Studios Ghibli. Es entstehen moderne Klassiker wie „Mein Nachbar Totoro“ „Prinzessin Mononoke“ und „Das wandelnde Schloss“. 2013 kündigt Miyazaki seinen Ruhestand an.
Eine filmische Auseinandersetzung mit dem Abschied
Die Welt, die Mahito im aktuellen Film „Der Junge und der Reiher“ betritt, entsprang einst der Fantasie eines vor Jahrzehnten verschwundenen Großonkels. Sie ist groß, aufregend und fantastisch, doch in sich nicht zu Ende gedacht. So fressen Pelikane hier das Fleisch von Menschen, weil sie in dieser Welt keine Fische finden, die sie stattdessen fressen könnten. Mahito muss entscheiden, ob er in dieser fiktiven Welt grenzenloser Möglichkeiten bleiben möchte oder in die beschränkte, nicht immer gerechte Welt des Diesseits zurückkehrt.
Nicht zuletzt ist „Der Junge und der Reiher“ aber auch eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit Abschied: Abschied von der Mutter, Abschied von zu Hause und nicht zuletzt Abschied von der Kindheit. Miyazaki, dessen Familie vor dem Krieg aus Tokio flieht und dessen Kindheit von den Entbehrungen der Nachkriegsjahre geprägt ist, verarbeitet in diesem Film das Trauma einer ganzen Generation.
Was Miyazaki erzählen will, erschließt sich nicht immer auf den ersten Blick. Teilweise sind die Assoziationen recht verkopft und gerade für westliche Zuschauer nicht einfach nachvollziehbar. Doch gerade Liebhaber seiner früheren Filme erkennen in „Der Junge und der Reiher“ Ideen und Konzepte wieder, die Miyazaki auch in diesem Alterswerk mit Liebe zum Detail und meisterlichem Feingefühl in seine Erzählung einarbeitet.
Folgt nun Miyazakis Abschied vom Filmemachen?
Verabschiedet sich Hayao Miyazaki nach „Der Junge und der Reiher“ wieder vom Filmgeschaft? Mit ihm über Ruhestand zu sprechen sei nicht möglich, sagte Ghibli-Mitbegründer und Präsident Toshio Suzuki jüngst im Gespräch mit der französischen Zeitung Libération. Miyazaki denke tagtäglich an sein nächstes Projekt.
Im Dezember sorgte ein Dokumentarfilm des japanischen Fernsehens für neuen Gesprächsstoff: Man sah Miyazaki bei der Arbeit an einem Aquarell, das die Heldin seines frühen Erfolgsfilms „Nausicaä aus dem Tal der Winde“ zeigt. Fans spekulieren nun im Internet über eine mögliche Fortsetzung des Filmklassikers. Nichts ist bestätigt, doch Material gäbe es genug: Miyazakis Manga-Vorlage umfasst sieben Bände.