Der 17. Juni 1997 ist ein denkwürdiger Tag in der deutschen Justizgeschichte. Über einen Zeitraum von mehreren Jahren standen insgesamt 25 Menschen vor dem Mainzer Landgericht, denen massenhafter Missbrauch ihrer Kinder, Neffen und Enkel vorgeworfen wurde. Der letzte Prozesstag endete mit Freisprüchen und der Aussage des Vorsitzenden Richters Lorenz, dass es in Worms einen Massenmissbrauch nie gegeben habe.
Doch wie konnte es soweit kommen? Weil es angeblich Hinweise auf möglichen sexuellen Missbrauch gab, wurden insgesamt 16 Kinder durch eine Mitarbeiterin des Vereins "Wildwasser" vernommen - einem gemeinnützigen Verein gegen sexuelle Gewalt. Später stellte sich heraus, dass die Mitarbeiterin den Kindern Suggestivfragen gestellt hatte.
Mehrere Wissenschaftler kommen deshalb zu dem Schluss, dass den Kindern der Missbrauch mit hoher Wahrscheinlichkeit suggeriert wurde und er nie geschehen ist. Die Wormser Kriminalpolizei war nicht an den Ermittlungen beteiligt.
Die Staatsanwaltschaft stützte ihre Anklage vor allem auf die Vernehmungen der Kinder durch Wildwasser. Das berichtet der damalige Vorsitzende Richter Lorenz in einem Podcast mit Ferdinand Schirach Anfang des vergangenen Jahres.
Zweifelhafte Aussagen und falsche medizinische Einschätzungen
Der Verein "Wildwasser" brachte die Kinder dann zu einem Mediziner, der sie untersuchte. Dieser war fest davon überzeugt, dass es einen sexuellen Missbrauch gegeben hatte. Eine Erkenntnis, die sich später als falsch herausstellen sollte, wie die Rechtsmedizin der Mainzer Universität bestätigte.
Die 25 Angeklagten landeten infolge dessen alle in Untersuchungshaft. Viele Aussagen der Wildwasser-Mitarbeiterin stellten sich in den späteren Verhandlungen als falsch heraus.
So wurden Misshandlungen an Kindern geschildert, die zum angegebenen Zeitpunkt noch gar nicht geboren waren. In anderen Fällen waren die angeblichen Täter bereits in Untersuchungshaft, während sie sich an Kindern vergangen haben sollten.
Drei Missbrauchsprozesse
Bereits der erste Worms-Prozess endet mit einem Freispruch. Der dafür verantwortliche Vorsitzende Richter und spätere Mainzer Oberbürgermeister Jens Beutel war jedoch überzeugt, dass es einen Missbrauch gegeben hat. Wie bei den anderen beiden Prozessen stand auch dort der Vorwurf der Kinderpornografie im Raum: Doch es wurden weder Videos noch Fotos gefunden.
Erst am Ende des dritten Prozesses im Jahr 1997 wird klar: Das alles hat es nie gegeben. Übrig geblieben sind zerrüttete Familien und Kinder, die später dann doch missbraucht werden sollten.
Tatsächlicher Kindesmissbrauch im Kinderheim
Sechs der Kinder kamen ins pfälzische Ramsen. Dort standen sie unter der Obhut des Heimleiters Stefan S. Er machte dort weiter, wo die Mitarbeiterin von "Wildwasser" aufgehört hat: Er redete den Kindern ein, dass ihre Eltern Verbrecher seien und sie missbraucht hätten und verhindert so gemeinsam mit dem Wormser Jugendamt, dass sie zu ihren Eltern zurückkehren konnten.
Ein unglaublicher Vorgang, sagt der Bielefelder Psychologie-Professor Uwe Jopt. Er hat sich intensiv mit den Vorfällen befasst und heftige Kritik geübt - sowohl am Heimleiter, als auch am Wormser Jugendamt.
Den eigentlichen Missbrauch erlebten die Kinder erst in Ramsen, im Kinderheim "Spatzennest". Der Leiter des Heims verging sich an dreien von ihnen. 2011 wird Stefan S. deshalb zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und acht Monaten Haft verurteilt. Ein Berufsverbot für den Mann, wie von der Staatsanwaltschaft gefordert, wies der Bundesgerichtshof 2013 zurück.