Schüsse in der Region Stuttgart: An einem Pkw ist ein Einschussloch zu sehen. In in der Nacht zuvor war ein 18-Jähriger in Asperg erschossen worden.

LKA: Hohe Gewaltbereitschaft in "Subkultur"

Ermittler berichten: Das steckt hinter der Serie von Schüssen in der Region Stuttgart

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Verena Neuhausen
Verena Neuhausen

Die Schussserie in der Region Stuttgart hat sich laut Ermittlern aus einer "gewaltbereiten Subkultur" entwickelt. Den Tätern geht es um Anerkennung - mit gefährlichen Folgen.

Seit einem Jahr fallen in der Region Stuttgart immer wieder Schüsse. Die Serie von Gewalt zwischen zwei rivalisierenden Jugendgruppen eskalierte vor vier Wochen mit dem Wurf einer Handgranate auf einem Friedhof in Altbach. Expertinnen und Experten unter der Führung des Landeskriminalamts (LKA) versuchen zu ergründen, was hinter dieser Welle von Gewalt steht. Etwa 25 junge Männer sitzen bereits in Untersuchungshaft. Dennoch ist nicht klar, bis wann die Serie der Gewalt aufgeklärt ist und ob sie in absehbarer Zeit beendet werden kann.

Wie erfolgreich sind die Ermittlungen bislang?

Beim LKA hat nach eigenen Angaben die Suche nach den Tätern höchste Priorität. Laut Staatsanwaltschaft Stuttgart sind bereits 17 Tatverdächtige wegen Vorwürfen im Zusammenhang mit der Schussserie in Untersuchungshaft. Das LKA spricht sogar von mehr als 25 Tatverdächtigen. Hier werden auch Personen mitgezählt, die wegen anderer Straftaten verhaftet worden sind, aber gegen die auch im Zusammenhang der Schussserie ermittelt wird.

Anders als bei dem Wurf der Handgranate, wo bereits ein Tatverdächtiger in Untersuchungshaft sitzt, sind die Ermittlungen zu den Schüssen allerdings noch weitgehend offen. Einzige Ausnahme ist ein Zwischenfall in Esslingen-Mettingen vom September 2022. Hier läuft vor dem Stuttgarter Landgericht bereits ein Strafverfahren. Doch aus Ermittlerkreisen heißt es auch, der Kreis von möglichen Tatverdächtigen sei sehr groß.

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Wer steckt hinter den Straftaten?

Die Ermittlungen der Polizei konzentrieren sich auf die Auseinandersetzung zweier loser Gruppierungen von Jugendlichen. Diese seien nur sehr locker organisiert, heißt es aus Ermittlerkreisen. Die Polizei beobachtet Treffpunkte von jungen Menschen, sei es vor Ort, in Bars, Barbershops oder Lokalen, sei es im Internet. Das macht die Ermittlungen schwierig. Expertinnen und Experten sprechen deswegen weniger von klassischen Jugendbanden, sondern eher von einer Subkultur. Diese sei geprägt von jungen Männern zwischen 16 und 25 Jahren, die oft einen Migrationshintergrund hätten. Dabei gehe es weniger um jüngst Geflüchtete als vielmehr um die Söhne und Enkel von Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern.

Es sei jedoch kein Zusammenschluss einzelner Nationalitäten, sondern eine Mischung aus Personen ganz verschiedener Herkunft. Versucht man zu ergründen, was die Menschen eint, hört man immer wieder, dass sie sich nicht respektiert fühlen würden. Das sei ein Grund, warum sich Tatverdächtige, Opfer und auch Zeuginnen und Zeugen nicht gegenüber der Polizei öffnen und so die Aufklärung der Straftaten erschweren.

Woher kommt die hohe Gewaltbereitschaft?

Nach bisherigen Erkenntnissen geht es den jungen Männern vor allem um Anerkennung - bei Treffen und beim Austausch im Internet auf verschiedenen Social Media-Plattformen. Dabei spielen große und schnelle Autos wie Mercedes und sogar Lamborghini als Statussymbole eine wichtige Rolle. Einige junge Männer seien aber auch mit ihrer Bereitschaft, zu Waffen zu greifen, offenbar auf Anerkennung aus, hört man aus Ermittlerkreisen. Und weiter, dass diese jungen Männer wenig Anerkennung durch Ausbildung und Karriere erzielen könnten. In dieser Hinsicht seien viele der jungen Männer eher erfolglos.

Hinzu käme, dass die Gewalt oft nicht lange vorher geplant werde, sondern sich offenbar spontan ergebe. Gerade deshalb sei es für die Polizei schwer, vorab Anzeichen für eine Eskalation zu erkennen. Sie sieht Parallelen zur Stuttgarter "Krawallnacht". Diese habe sich aus einer Routine-Drogenkontrolle entwickelt und sei dann eskaliert. Die Polizei setzt auf das, was sie "Kontrolldruck" nennt - also dass sie sich zeigt, dort wo sich die Szene trifft. Zudem durchsucht die Polizei Wohnungen und Autos von Verdächtigen.

Drohen in der Region Stuttgart Krawalle wie in Frankreich?

Die Gewalt in der Region Stuttgart richtet sich derzeit offenbar nicht direkt gegen die Polizei und auch nicht gegen staatliche Institutionen. Auch gibt es in der Region Stuttgart keine Vorstädte (Banlieues) wie in Frankreich. Vielmehr gehen Ermittlerinnen und Ermittler davon aus, dass sich die Gewalt zunächst zwischen zwei rivalisierenden Gruppen abspielt. Insofern ist die hiesige Gewalt kaum mit der in Frankreich zu vergleichen. Anderseits hat die Stuttgarter Krawallnacht gezeigt, dass sich auch hier Randale in kürzester Zeit hochschaukeln können - und sich dabei die Gewalt - wie in Frankreich - auch gegen die Polizei richten kann.

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Doch selbst wenn die Polizei Überschneidungen zwischen den Personen während der Krawallnacht und den Schüssen in der Region Stuttgart sieht, warnt sie davor junge Männer unter Generalverdacht zu stellen. Außerdem sagt sie: Das Problem ist im größeren Kontext kein rein polizeiliches, sondern ein gesellschaftliches.

Ähnliches hört man aus Kreisen der Justiz, die viel mit Jugendkriminalität zu haben. So seien Jugendrichterinnen und Jugendrichter häufig mit Fällen aus genau der gleichen Subkultur im Großraum Stuttgart beschäftigt, wie sie jetzt nach der Schussserie im Fokus der Polizei steht. Von Richterinnen und Richtern hört man zum Beispiel, dass nach ihrer Einschätzung mindestens drei Viertel aller Vorfälle im Jugendstrafrecht Angeklagte beträfen, die Migrationshintergrund hätten. Häufig seien das Kinder oder Enkel der Einwandergeneration für die Automobilindustrie in Baden-Württemberg. Die heutige junge Generation habe nicht mehr die gleichen Chancen wie ihre Väter oder Großväter einen gleichwertigen Lebensstandard erwirtschaften zu können. Das allein erklärt keine Gewalt. Fragt man hier nach, heißt es aus Jugendjustizkreisen, dass auch ein besonderes Verständnis von "Ehre" eine Rolle spiele.

Übersteigerte Vorstellungen von "Ehre" als Gewaltursache?

Eine Beleidigung unter Jugendlichen, bei der beispielsweise die Mutter verbal angegangen wird, könne ausreichen, dass Jugendliche oder junge Erwachsene aufeinander losgehen – auch mit Waffen, hört man von Jugendstrafrichterinnen und Richtern. Die Brutalität, mit der dann diese "Ehre" verteidigt werden würde, habe zugenommen. Auch hinter dem Handgranaten-Anschlag in Altbach sowie hinter den Schüssen in der Region Stuttgart sehen Ermittlerinnen und Ermittler "ehrverletzende Beleidigungen". Die Zahl derer, die immer ein Messer bei sich trügen, sei immens gestiegen. Vor Gericht zeige sich, was auch die Polizei berichtet: Weder Angeklagte noch Opfer oder Zeuginnen und Zeugen von brutalen Auseinandersetzungen wollten vor Gericht aussagen oder mit Ermittlerinnen und Ermittlern kooperieren. Auch das sei eine Folge des verletzten Ehrgefühls.

Ein Richter äußerte gegenüber dem SWR den Eindruck, dass Staat und Polizei von manchem straffälligen Jugendlichen als zu schwach wahrgenommen würden. Vor allem in Verfahren rund um Drogendelikte auszusagen, sei verpönt und verstoße gegen die "Ehre". Dafür gebe es in der Szene sogar einen festen Begriff. Man wolle nicht den "Einunddreißiger" machen. Der Paragraph 31 des Betäubungsmittelgesetzes sieht Strafmilderung vor, wenn Angeklagte freiwillig zur Aufklärung von Drogenstraftaten beitragen. Vor diesem Hintergrund ist die Einschätzung von Expertinnen und Experten ernüchternd: Sie gehen davon aus, dass Polizei und Justiz die Welle an gewalttätigen Auseinandersetzungen nicht schnell eindämmen könnten.

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