"Die Jungfräulichkeit wiederherstellen" - das verspricht das Unternehmen VirginiaCare aus Waghäusel (Kreis Karlsruhe). Es verkauft Blutkapseln, die sich Frauen vor dem Sex einführen können. Nach einiger Zeit sollen sich laut Hersteller die Kapseln vollständig auflösen und eine Blutspur auf dem Laken hinterlassen, um vorzutäuschen, dass man zum ersten Mal Sex hatte.
Einen ähnlichen Effekt sollen laut Unternehmen auch die künstlichen Hymen mit "Jungfernblut-Pulver" haben. Daneben bietet VirginiaCare unter anderem aber auch ein Vagina-Straffungsgel an, welches nach mehrmaliger Anwendung für "eine spürbar straffere und jungfräulich anfühlende Vagina" sorgen soll.
VirginiaCare findet nach eigenen Angaben weltweit Abnehmer. Die Produkte würden aber besonders auf den Märkten in Europa, dem Nahen Osten und Asien gekauft werden. Der Wunsch nach persönlichem Wohlbefinden stehe dabei im Vordergrund, so das Unternehmen. Aber hinter der Vermarktung der Produkte steckt ein weitverbreiteter Irrglaube.
Jungfräulichkeit beim Sex: Gibt es das Jungfernhäutchen?
Es geht um den Mythos des Hymens. Der Begriff Hymen ist altgriechisch und bedeutet "Häutchen". Häufig wird es auch als Jungfernhäutchen bezeichnet. Es soll ein dünnes Häutchen sein, dass den Scheideneingang verschließt und beim ersten Geschlechtsverkehr mit einem Penis zerreißt. Dieser Mythos hält sich besonders hartnäckig. Und das, obwohl es unmöglich ist, am Körper einer Person abzulesen, ob sie schon mal Sex hatte oder nicht.
Ein Häutchen, das beim ersten Geschlechtsverkehr reißt - mit dieser Definition stand es bis Anfang 2022 noch in den meisten Schulbüchern. Auch Duden Online vermittelte bis 2019 dieses falsche Bild.
Laut der Gynäkologin Alicia Baier ist das Hymen stattdessen aber ein elastischer Gewebesaum, der den Vaginaleingang ringförmig umgibt. Da es sich anatomisch also eher um einen dehnbaren Hautkranz als um ein verschlossenes Häutchen handelt, kann auch der lateinische Begriff Corona vaginalis verwendet werden.
Sexualität Mythos Jungfernhäutchen – Wie falsche Vorstellungen Frauen schaden
Das Jungfernhäutchen, auch Hymen genannt, soll beim ersten Sex reißen wie eine Folie. Ein Irrglaube, der sich hartnäckig hält und viele Frauen dazu bringt, sich operieren zu lassen.
Nicht alle Frauen bluten beim ersten Geschlechtsverkehr
Tatsächlich bluten Frauen nach Angaben von Alicia Baier nicht zwangsläufig beim ersten Geschlechtsverkehr. "Vielleicht wenn man sehr verkrampft ist, dass es eben an der Corona vaginalis zu kleinen Einrissen kommt, oder aber auch an anderen Stellen in der Vagina", sagt die Gynäkologin. Das müsse aber nicht zwangsläufig beim ersten Mal passieren und könne auch beim zweiten oder dritten Mal vorkommen.
Patriarchale, also männlich geprägte Strukturen, seien für diesen Irrglauben verantwortlich, so Baier. Diese Ansicht teilt unter vielen anderen auch die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes. Der Mythos besteht in den Augen der Gynäkologin, um die Kontrolle über den weiblichen Körper zu bekommen. Frauen würden in ihre traditionelle Geschlechterrolle zurückgedrängt werden.
Dazu gehöre auch, dass sie ihre Sexualität nicht selbstbestimmt erleben dürften. Stattdessen solle die Frau treu sowie fürsorglich sein, Kinder bekommen und möglichst nicht am öffentlichen Leben teilnehmen. "Das sind alles sehr antifeministische Gedanken", sagt Alicia Baier. Häufig wird die Einstellung mit Religionen in Verbindung gebracht. Es habe aber nichts mit dem Islam oder dem Christentum an sich zu tun.
Das Jungfernhäutchen
Der Name „Jungfernhäutchen“ ist irreführend. Es ist eigentlich eine Hautfalte zwischen Vulva und Scheide, die den Scheideneingang säumt, aber nicht verschließt.
Operationen und Blutkapseln als Notlösung?
Der Mythos ist in der heutigen Gesellschaft trotzdem noch so weit verbreitet, dass sich einige Frauen operieren lassen oder Blutkapseln und künstliche Hymen verwenden. Die Medizinethikerin Verina Wild hat in einer Studie aus dem Jahr 2015 untersucht, welche Rolle die Rekonstruktion des Hymens mit einer Operation spielt. Das Fazit der Studie: In einem Umfeld, das Frauen nach wie vor unterdrückt, seien Blutkapseln oder eine Hymenrekonstruktion ein pragmatischer Weg für die Frauen, indem es sie vor Schlimmerem schützt.
Auf der Website von VirginiaCare werden die Produkte als Werkzeuge beworben, um das Selbstvertrauen und die Würde der Frau wiederherzustellen. Die Produkte sollen Frauen die Kontrolle über ihren Körper und ihre Sexualität zurückgeben, in einer Welt, in der diese oft kontrolliert und reglementiert werden, schreibt das Unternehmen auf der Website.
Auch der Geschäftsführer von VirginiaCare bestätigt dieses Selbstbild. "Wir sehen unsere Produkte jedoch nicht als Verstärkung dieses Drucks, sondern als eine Möglichkeit für Frauen, ihre persönlichen Entscheidungen frei zu treffen", schreibt der Geschäftsführer Horst Lindemann auf Anfrage des SWR.
Alicia Baier: Es braucht eine kultursensible Aufklärung
Die Gynäkologin Alicia Baier kritisiert die Darstellung des Unternehmens. Sie sieht solche Maßnahmen, ähnlich wie die Studie von Verina Wild, als eine pragmatische Notlösung. Es sei eine unmittelbare Hilfe, um Gewalt oder Gefahr abzuwenden und nicht eine selbstbestimmte Entscheidung.
Um den Frauen in diesen Situationen langfristig helfen zu können, braucht es laut der Gynäkologin eine kultursensible Aufklärung mit verschiedenen Aufklärungsangeboten oder auch Kampagnen, die das klar verurteilen.
Auch Schulen könnten dabei mithelfen und im Sexualkundeunterricht Selbstbestimmung und Wissen über die korrekte Anatomie beider Geschlechter vermitteln, so Baier.