Fußball | Hintergrund

Gruppen-Coming-out im Profifußball - Das Versteckspiel soll ein Ende finden

Stand
Autor/in
Johann Schicklinski
Ein Film von
Marcel Fehr

Homosexualität ist im Männerfußball immer noch ein großes Tabu. Ein Gruppen-Coming-out soll dabei helfen, Vorbehalte ab- und mehr Toleranz und Offenheit aufzubauen.

Es ist DAS große Tabuthema im Profifußball der Männer: Homosexualität! Nicht nur, aber auch in Deutschland. Noch immer hatte kein aktiver Fußballprofi hierzulande sein Coming-out. Dabei hat die Gesellschaft schon lange kein Problem mehr mit gleichgeschlechtlicher Liebe oder sexuellen Präferenzen. Im Gegenteil: Die Toleranz ist in den letzten Jahrzehnten bei der breiten Masse stark gewachsen. Trotz dieser Fortschritte hat sich im Profifußball allerdings wenig getan.

Marcus Urban: "Vorbehalte sind am Bröckeln"

Damit hinkt der Männer-Fußball der gesellschaftlichen Entwicklung hinterher. "Es ist überhaupt kein Thema mehr, ob man homo- oder heterosexuell ist. Aber im Fußball hat sich das eben noch verhärtet. Das ist so geblieben. Allerdings ist es am Bröckeln", sagt Marcus Urban.

Ein Gruppen-Coming-out am Internationalen Tag gegen Homophobie

Gemeinsam mit Mitstreitern will der schwule Ex-Jugendnationalspieler deshalb den Weg dafür bereiten, dass auch im Fußball-Business jeder offen zu seiner sexuellen Orientierung stehen kann. Und dass Ängste oder Vorbehalte abgebaut werden können. Und zwar durch ein bereits im November 2023 angekündigtes Gruppen-Coming-out am Freitag, den 17. Mai. 2024, dem "Internationalen Tag gegen Homophobie".

Die Bereitschaft, bei der konzertierten Aktion mitzumachen, sei groß gewesen, so der Ex-Kicker im Gespräch mit SWR Sport. "Es wollen sich Personen aus Österreich, Deutschland und England outen", verrät der 53-Jährige. "Der Prozess ist tatsächlich auch ein bisschen aufwühlend. Aber ich freue mich riesig über das Vertrauen, das uns entgegengebracht wird."

Marcus Urban vom "Verein für Vielfalt in Sport und Gesellschaft"
Marcus Urban vom "Verein für Vielfalt in Sport und Gesellschaft"

"Sports Free" - eine Website gegen das Versteckspiel

Urban und seine Mitstreiter wollen mit der Kampagne "Sports Free" das Coming-out auf einer digitalen Plattform möglich machen. Ein Online-Angebot, auf dem homosexuelle Fußballer sich offenbaren und mit anderen austauschen können. Aber nicht nur. Die Website gilt neben Sportlern auch für Vereinsfunktionäre, das Geschlecht spiele zudem keine Rolle.

Durch das digitale Angebot soll der Zugang zu mehr (eigener) Offenheit möglichst niederschwellig sein. Personen, die sich unsicher sind, soll das Coming-out so einfach wie möglich gemacht werden. "Es gibt solche Leute, etwa in Bundesligavereinen, die zwar keine Angst haben, aber für die kein Setting, kein Rahmen vorhanden ist, um sich zu öffnen", erklärt Urban. "Für die soll die Website eine elegante, charmante Möglichkeit bieten, um einfach mal kurz sagen: 'So ist es! Danke! Weitermachen!'"

Erstes Video bereits veröffentlicht

"Sports Free" hat vorab schon ein erstes Coming-out-Video veröffentlicht. Dirk Elbrächter, der bei der TSG Hoffenheim in der Medienabteilung arbeitet und früher für "Sky" als Reporter tätig war, erzählt, dass er seit 15 Jahren in einer homosexuellen Beziehung lebt, sich aber im Fußball-Business nie offen dazu bekannt habe. Durch die Kampagne von Urban und Co. habe er sich nun ermutigt gefühlt, diesen Schritt zu gehen.

Dirk Elbrächter: "Mein Gott, warum hast du denn so lange gewartet?"

"Das Ganze hat den Anstoß dafür geliefert, dass ich eines Tages gesagt habe: 'Ich möchte das so nicht mehr.' Ich habe mich mit meinen Kollegen unterhalten und mit der Geschäftsführung der TSG. Und ich habe wirklich ganz fantastische Reaktionen bekommen, was mich sehr gefreut und ermutigt hat", so Elbrächter. "Ich dachte dann auch: 'Mein Gott, warum hast du denn so lange darauf gewartet? Das hättest Du doch alles schon viel eher haben können.'"

Der VfB Stuttgart und der SC Freiburg beteiligen sich finanziell

Die Unterstützung für "Sports Free" ist bereits jetzt groß: Mehrere Bundesligisten hätten schon hohe Beträge gespendet oder zugesagt, so die Macher. Darunter Borussia Dortmund, der VfB Stuttgart, der SC Freiburg und der FC St. Pauli.

Immer am 17. eines Monats soll ein öffentliches Outing möglich sein

Das Gruppen-Coming-out soll keine einmalige Aktion bleiben. Dauerhafte Aufmerksamkeit für das Thema schwebt den Initiatoren um Urban vor. Der 17. Mai soll deshalb das erste Angebot von vielen sein, sich zu trauen, sich öffentlich und in einer Gruppe zu outen. Ein "Startschuss" gewissermaßen. Danach soll es jeweils am 17. eines Monats möglich sein.

Das Thema ist für Urban eine Herzenssache. Der frühere Kicker war 2007 der erste ehemalige Fußballer in Deutschland, der sich öffentlich zu seiner Homosexualität bekannte. Berufsfußballer war er indes nie - eine bewusste Entscheidung, die ihm damals wehgetan hatte.

England-Profi Justin Fashanu als Vorreiter

Der erste Fußballer weltweit, der sich bekannte, war Justin Fashanu. Er machte 1990 als aktiver Fußballprofi in England seine gleichgeschlechtliche sexuelle Orientierung öffentlich. Er stand damals unter Druck, denn die berüchtigte britische Boulevardpresse hatte Wind von Fashanus Homosexualität bekommen. Trotzdem war er seiner Zeit durch das Outing voraus.

Die Rahmenbedingungen waren im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts andere als sie es heute sind. Die Medien stürzten sich auf die Story, schlachteten sie aus. Von vielen gegnerischen Fans wurde Fashanu damals angefeindet oder verspottet. Er suchte in der Folge seinen Platz im Fußball und auch in der Gesellschaft, fand ihn aber nie wieder so richtig. Fashanu nahm sich 1998 mit nur 37 Jahren das Leben.

Marcus Urban: "Da fanden sie mich"

In Deutschland war Urban der Pionier. Für ihn war sein Coming-out vor 17 Jahren ein großer Schritt. "2007, ein Jahr nach der Heim-WM 2006 in Deutschland, interessierten sich die Medien für Vielfalt und sie stellten fest, dass es geschlechtliche und sexuelle Vielfalt im Profisport offensichtlich nicht gibt. Sie haben gesucht und keiner traute sich. Da fanden sie mich", erinnert sich der 53-Jährige. Urban nahm daraufhin all seinen Mut zusammen.

Marcus Urban war 2007 der erste ehemalige Fußballer in Deutschland, der sich öffentlich zu seiner Homosexualität bekannte
Marcus Urban war 2007 der erste ehemalige Fußballer in Deutschland, der sich öffentlich zu seiner Homosexualität bekannte

17 Jahre ist das nun her. 17 Jahre, in denen sich hierzulande im Profifußball in Sachen Outing nicht allzu viel getan hat. Weiterhin würden sich nur sehr wenige aktive Fußballer aus der Deckung trauen, so Urban. Es herrsche "höchste Vorsicht". Noch immer hätten viele Spieler verinnerlicht, dass sie nach einem Coming-out in der Branche in Ungnade fallen würden.

Marcus Urban vermutet eine weitverbreitete "Angst"

Es gebe weiterhin eine Hemmschwelle, so Urban: "Offensichtlich haben die Spieler Angst vor verschiedenen Dingen: vor den Mitspielern, vor dem Verein, vor Sponsoren. Sie haben Angst, im Stich gelassen zu werden. Die Familie spielt sicher auch eine Rolle. Die Berater drumherum."

Aber warum eigentlich? Der Boden scheint zumindest in Deutschland bereitet. In vielen Klubs gibt es immer wieder Aktionen von Fans, auf Vereinsebene wird viel gemacht. Viele, vor allem organisierte Anhänger, pflegen bereits eine Kultur der Toleranz und scheinen hier deutlich weiter zu sein als viele Verantwortliche.

Glaubwürdigkeit des DFB beim Thema Diversität ist nicht unumstritten

Auch beim DFB ist man bemüht. Seit vielen Jahren gibt es von Seiten des Verbands Bestrebungen, das Thema Homosexualität im Profifußball zu enttabuisieren. Doch viel mehr als Positionspapiere und Unterstützungsbekundungen für homosexuelle Spieler gab es bislang nicht. Die Glaubwürdigkeit des DFB beim Thema Diversität ist deshalb nicht unumstritten.

DFB-Geschäftsführer Andreas Rettig: "Wir haben Optimierungsbedarf"

"Ich glaube, dass die Zeit zwar reif ist, aber die Atmosphäre und dieser Wohlfühlfaktor, den es braucht, um sich zu öffnen, die fehlen noch. Deshalb müssen wir helfen", sagt DFB-Geschäftsführer Andreas Rettig. Der Funktionär gesteht: "Wir als DFB haben sicherlich Optimierungsbedarf, aber wir sind die ersten Schritte gegangen. Wir wollen Anlaufstelle sein. Die Botschaft muss lauten: 'Kommt zu uns. Wir sind bereit, euch zu unterstützen!'"

Das Problem: Diese Anlaufstellen werden vor allem von Vereinen und Verbänden kontaktiert, nicht von Profifußballern.

DFL verweist auf spezielle Aktionen

Von der DFL, zuständig für Spielbetrieb in Bundesliga und 2. Liga, hieß es auf Anfrage des SWR: "Die DFL und der deutsche Profifußball setzen sich seit vielen Jahren für Zusammenhalt, eine vielfältige und diskriminierungsfreie Gesellschaft ein." Beispiele dafür seien neben der Plattform "BundesligaWIRKT" etwa regelmäßige Aktionsspieltage sowie die alljährliche Beteiligung am "Erinnerungstag im deutschen Fußball".

Zum Thema Gruppen-Coming-out sagt die DFL in einem schriftlichen Statement folgendes: "Ein öffentliches Coming-out ist eine sehr persönliche, individuelle Entscheidung. Die DFL und der deutsche Profifußball insgesamt stehen an der Seite jedes einzelnen Spielers und jeder einzelnen Spielerin, der oder die eine solche Entscheidung getroffen hat oder treffen möchte." Wohlfeile Worte und Aktionen, doch helfen diese wirklich?

Thomas Hitzlsperger über langsamen Fortschritt enttäuscht

Thomas Hitzlsperger, 2007 Meister mit dem VfB Stuttgart, ist von der zähen Entwicklung desillusioniert. "Es outen sich nicht ansatzweise so  viele homosexuelle Spieler, wie es gibt", so der Ex-Nationalspieler, der 2014 sein Coming-out hatte: "Das ist eine Enttäuschung, wenn man bedenkt, dass sich die Rahmenbedingungen alles in allem verbessert haben."

Stuttgart

Zehn Jahre danach "Ist ein Vorbild": Was Hitzlspergers Coming-out verändert hat

Mit seinem Coming-out hat Thomas Hitzlsperger den Umgang mit dem Thema Homosexualität im deutschen Profifußball positiv verändert. Das merkt auch ein Fanclub des VfB Stuttgart.

SWR Aktuell Baden-Württemberg SWR BW

Fußballprofi Josh Cavallo macht Partner Antrag im Stadion

Immerhin: Auf internationaler Ebene gibt es Gegenbeispiele. "Leuchttürme" sozusagen. Etwa der Australier Josh Cavallo. Er hatte sich vor rund zweieinhalb Jahren auf seinen Social-Media-Kanälen geoutet, als erster Spieler der australischen A-League. Vor knapp zwei Monaten folgte der Heiratsantrag im heimischen Stadion. Gleichzeitig dankte Cavallo seinem Verein: "Eure endlose Unterstützung hat mir so viel bedeutet. Ihr habt einen sicheren Raum im Fußball geschaffen, den ich in meinen Träumen nie für möglich gehalten hätte, und ihr habt mich ermutigt, jeden Tag meines Lebens authentisch zu leben."

Oder Jakub Jankto. Er outete sich 2023. Nach dem Coming-out des tschechischen Nationalspielers befürchteten die Verantwortlichen beim Auftritt seines Klubs Sparta Prag beim Rivalen Banik Ostrau das Schlimmste. Doch bei Janktos Einwechslung damals blieb alles ruhig. Keine Beleidigungen, keine Schmähgesänge - Janktos Sexualität war schlichtweg kein Thema.

Weltweit nur sieben aktive Profis, die offen homosexuell leben

So sollte es in einer idealen Welt immer sein. Doch das sind noch Ausnahmen, "Leuchttürme" eben. Bislang gibt es weltweit nur sieben aktive Profis, die offen homosexuell leben.

Dies wollen Urban und seine Mitstreiter künftig ändern. Denn bei einem ist sich Urban sicher: "Du kannst nicht glücklich sein und leben, wenn du dich verstecken und verleugnen musst." Eine universell gültige Lebensweisheit. Erst recht, was das Tabuthema Homosexualität im männlichen Profifußball angeht.

"Du kannst nicht glücklich sein und leben, wenn du dich verstecken und verleugnen musst."

Urban und seine Kollegen wünschen sich eine große Resonanz, vor allem unter noch aktiven Fußballern. Viel mehr als eine Hoffnung ist das aber aktuell nicht. Der 53-Jährige, der sich auch im "Verein für Vielfalt in Sport und Gesellschaft" engagiert, dämpft die Erwartungen an das angekündigte Gruppen-Coming-out deshalb vorab ein wenig. "Aktive Profifußballer halten sich noch zurück", spekuliert er. Die Spieler seien extrem vorsichtig.

Thomas Hitzlsperger hofft auf Resonanz

Der Weg wird ein langer sein, dessen sind sich Urban und seine Mitstreiter bewusst. Der 17. Mai solle deshalb "ein erstes Angebot an Spieler und Funktionäre sein, sich zu positionieren". Ex-Profi Hitzlsperger begrüßt die Aktion. "Es wäre ein großer Schritt, der für sehr viel Aufmerksamkeit sorgen würde", sagt er. "Ich glaube, das Umfeld dafür wäre bereit."

Und weiter: "Persönlich wird es mich sehr interessieren, Geschichten zu hören von Menschen, die darüber sprechen, was sie bisher von einem Outing abgehalten hat. Das könnte vieles bewirken und vieles verändern."

Urban und seinen Mitstreitern ist völlig klar, dass das Umdenken nicht auf einen Tag fixiert werden kann. Man müsse die Aktion langfristig sehen. Die Kampagne wird aber auch unabhängig von einer möglichen Profi-Teilnahme zum Erfolg, wenn sich genug Personen beteiligen. "Es geht nicht allein um die Spieler", betont Urban deshalb: "Es geht auch um Schiedsrichter, um Funktionäre, um Personen, die in den Vereinen arbeiten. Und vor allem geht es um die Kultur und das Klima im Leistungssport. Und da hat dieses Projekt schon etwas verändert."

"Vor allem geht es um die Kultur und das Klima im Leistungssport. Da hat dieses Projekt schon etwas verändert."

Mediale Aufmerksamkeit, Awareness, ein Umdenken. Das alles soll durch "Sports Free" gesteigert werden. Auch und erst recht, wenn prominente Outings zu Beginn der Initiative ausbleiben sollten.

"Da entsteht gerade etwas Großes!"

Durch Kontinuität soll dann möglichst Nachhaltigkeit geschaffen werden. Deshalb ist der Start der Kampagne nur der Anfang. Und hoffentlich der Anfang von etwas ganz Besonderem. "Sports Free" soll eine progressive Plattform werden, die auf die Zukunft ausgelegt und ausgerichtet ist. Oder wie Urban es ausdrückt: "Da entsteht gerade etwas Großes!"

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