Herxheim

Ein steinzeitlicher Kultort in der Pfalz

Stand
AUTOR/IN
Diane Scherzler

Auf den ersten Blick wirkt die Entdeckung schauerlich: Mehr als 450 säuberlich zerteilte Leichen wurden vor 7.000 Jahren in einer Grubenanlage beerdigt, Menschenschädel, denen man die Kopfhaut abgezogen hatte, haufenweise in tiefe Erdgruben versenkt. Die Gruben umgaben ein steinzeitliches Dorf - aber von dort können die vielen Toten nicht alle gekommen sein.

Kaum ein Ort könnte beim Vorbeifahren unscheinbarer wirken: Straßen, eine Verkehrsinsel und ein Industriegebiet liegen heute da, wo sich um 5.000 vor Christus ein jungsteinzeitliches Dorf befand.

Herxheim, Luftbild des Grabungsareals mit blau und rot eingezeichnetem vermutlichen Verlauf des inneren Grubenrings
Hier befand sich vor 7.000 Jahren ein jungsteinzeitliches Dorf

Doch dort, im pfälzischen Herxheim, machten Wissenschaftler eine aufregende Entdeckung: In tiefen Gruben, die dieses Dorf einst umgaben, entdeckten sie die Spuren eines einzigartigen Rituals.

Überreste einer unbekannten Zeremonie

"Wir haben Menschenknochen gefunden, die in sehr kleine Teile zerschlagen worden sind", erzählt die Koordinatorin der Untersuchungen, Dr. Andrea Zeeb-Lanz von der Archäologischen Denkmalpflege Speyer. "Es gibt aber auch Ansammlungen von Arm- und Beinknochen, bei denen sehr sorgfältig darauf geachtet wurde, dass sie ganz blieben."

Dr. Andrea Zeeb-Lanz
Andrea Zeeb-Lanz

Auch ganze Körperteile gelangten in die Gruben, sagt die Archäologin: "Wir finden Körperteile, an denen noch Sehnen vorhanden gewesen sein müssen, denn die Knochen liegen zusammen. Zum Beispiel gibt es einen Torso: der Kopf ist abgeschlagen, die Oberschenkel sind durchtrennt, er hat keine Arme mehr, aber der Rumpf ist am Stück geblieben."

Das Fleisch wurde vom Knochen entfernt

Mehr als 450 Schädel sind bisher entdeckt worden. Sie wurden von den Menschen, die in dieser Zeit - der so genannten Bandkeramik - lebten, besonders behandelt, erzählt Andrea Zeeb-Lanz: "Auf den Schädeln gibt es Schnittspuren, und zwar rundherum etwa auf Höhe einer Hutkrempe und über die Schädelmitte. Das sind genau die Stellen, die man einschneidet, um die Kopfhaut abzuziehen: Die Knochen wurden mazeriert, also vom Fleisch befreit." Oft ist der obere Teil des Schädels sorgfältig vom Gesichtsschädel abgetrennt, Unterkiefer sind in der Mitte zerschlagen worden.

Herxheim, Olaf Lange legt menschliche Knochen frei
Menschliche Schädel in einer der Gruben

Zwischen den Menschenknochen fanden die Archäologen zerschlagene, qualitativ hervorragende Keramik, unbrauchbar gemachte Steinbeile, zerstörte Feuerstein-Klingen, zertrümmerte Mahlsteine und zerbrochene Tierknochen.

Die Zerstörung als übergeordnete Idee

Wie deuten die Wissenschaftler das uns so fremde Szenario von Herxheim? Andrea Zeeb-Lanz fasst zusammen, was die Fachleute aus den Puzzlestücken zu rekonstruieren versuchen: "Wir stellen uns das so vor: Die Menschen der Bandkeramik haben hier zu verschiedenen Gelegenheiten - wie oft können wir nicht sagen – an offenen Gruben Gefäße, Menschenknochen und viele andere Dinge zerschlagen. Während der Zeremonie brannte in direkter Nähe dazu ein Feuer, das wissen wir. Man hat dann alle Bestandteile des Rituals mit Erde vermischt in die Gruben gefüllt."

Herxheim, menschliche Unterarmknochen und Unterkiefer
Menschlicher Unterkiefer und Armknochen

Und dabei scheinen die Menschenknochen nicht wichtiger gewesen zu sein als die anderen Gegenstände: "Die Menschen-Teile sind genauso Bestandteil des Rituals gewesen wie die Keramik-Teile und die Tierknochen-Teile. Wir sehen das so, dass sie im Ritual keine übergeordnete Stellung hatten. Alles zusammen ergibt erst in seiner Gesamtheit das Ritual, das diesen Menschen sehr wichtig war. Es gibt die übergeordnete Idee: Es wird etwas zerschlagen und dann in die Grube gepackt."

Herxheim, Skelettreste: Unterschenkel mit Fuß
Einzelner Unterschenkel mit Fuß

Ganz entschlüsseln werden die Archäologen die vorgeschichtlichen Glaubensvorstellungen nie können. Aber sie sammeln jede noch so kleine Information, um dem, was einst war, so nah wie möglich zu kommen.

Wer waren die Toten?

Im Dorf lebten gleichzeitig höchstens 100 Menschen. In allen Gruben, so errechnen das die Archäologen, sind Überreste von etwa 1.200 Menschen zu entdecken, die dort innerhalb von 50 Jahren bestattet wurden. Die Toten müssen also von weiter her kommen. "Das können 50 Kilometer Einzugsbereich sein, aber auch 600", überlegt Andrea Zeeb-Lanz, "das wissen wir einfach nicht."

Herxheim, Blick auf den inneren Grubenring
Der innere Grubenring

Nicht alle Menschen, deren Skelettreste die Wissenschaftler finden, waren kurz vor dem Ritual gestorben, sagt die Wissenschaftlerin: "Wir wissen, dass hier Menschen niedergelegt wurden, die gerade eben gestorben waren. Aber es gibt auch einige Knochen, an denen die Schlagspuren so gesplittert sind, dass die Knochen schon alt und trocken gewesen sein müssen, als sie bearbeitet oder zerschlagen wurden. Das heißt, hier sind offensichtlich auch Menschen bestattet, die woanders schon zehn Jahre in einem normalen Grab im Boden gelegen haben. Sie wurden wieder ausgegraben, um hier in Herxheim zur allerletzten Ruhe gebettet zu werden. Na, die allerletzte Ruhe ist es nun nicht, weil wir sie wieder ausgraben."

Ein einmaliger Fund

Vom Pariser Becken bis in die Ukraine war die Großkultur der Bandkeramik 650 Jahre lang in einem breiten Streifen über ganz Mitteleuropa verbreitet. Tausende von Siedlungen dieser Zeit haben Archäologen ausgegraben, hunderte von Gräberfeldern erforscht. Aber der Fund eines solchen Großbestattungsplatzes ist einmalig, sagt Andrea Zeeb-Lanz, und man merkt ihr den Stolz an: "Es gibt tatsächlich bisher in der ganzen bandkeramischen Welt nur diesen einen Befund. Auch aus keiner anderen vorgeschichtlichen Kultur kennen wir etwas Vergleichbares."

Fest steht: Vor 7.000 Jahren war das Dorf, an dessen Stelle sich heute das Industriegebiet von Herxheim befindet, ein ganz besonderer, ein einzigartiger Ort, zu dem die Menschen von weit her kamen, um dort ihre Toten zu bestatten. So sehr kann also der Augenschein beim Vorbeifahren täuschen!

Bauern, Viehzüchter und Händler

Sie gaben ihr Nomadenleben auf und wurden sesshaft: Der Beginn der Jungsteinzeit wird von Wissenschaftlern als kulturelle und technische Revolution angesehen. Die Funde, die Archäologen in Herxheim machen, zeigen uns nun einen weiteren, wichtigen Aspekt des Lebens vor 7.000 Jahren. SWR.de sprach mit der Speyerer Archäologin Dr. Andrea Zeeb-Lanz über den Alltag der ersten Bauern.

Wie sah das steinzeitliche Dorf ungefähr aus, das Sie beim heutigen Herxheim ausgraben?

Andrea Zeeb-Lanz: Es war von zwei Grubenringen umgeben, in denen wir die Skelette fanden. Die Siedlung hatte eine Fläche von ungefähr vier Hektar. Wir wissen, dass das Dorf mehrere hundert Jahre lang existierte.

Herxheim, Blick auf das Ausgrabungsgelände
Blick auf das Ausgrabungsgelände

Die Menschen lebten in Häusern, die zwischen 20 und 50 Meter lang und acht bis zwölf Meter breit waren. Die Gerüste der Häuser bestanden aus tief in die Erde gerammten Holzpfosten. Die Wände waren aus Weidengeflecht und mit Lehm verputzt. Über die Dachdeckung können wir nichts Genaues sagen, da noch nie Reste davon gefunden wurden. Sie waren möglicherweise mit Grassoden oder Stroh gedeckt.

Während einer Besiedlungsphase standen dort maximal zehn Häuser. Höchstens 100 Menschen lebten gleichzeitig in dieser Siedlung. Das ist ein Erfahrungswert, sicher können wir es nicht sagen. Diese Siedlung war ein größeres und ansonsten unauffälliges Dorf.

Wie lebten die Menschen dort?

Solange das Dorf als normale Siedlung und nicht als kultische Bestattungsstätte diente, lebten die Menschen hier wie anderswo während der Jungsteinzeit auch: Sie waren Bauern, bestellten ihre Äcker und züchteten Rinder, Schafe, Schweine und Ziegen. Alle Werkzeuge und Haushalts-Gegenstände stellten die einzelnen Familien selbst her. Auch die Keramik wurde in jedem Dorf getöpfert.

Herxheim, Restaurator Ludger Schulte beim Waschen von Funden
Restaurator Ludger Schulte

Es gab aber auch weit reichende Handelsverbindungen. Das verraten uns Muscheln, die wir in manchen Gräbern finden: Die so genannten Spondylus-Muscheln leben nämlich nur im Mittelmeer. Sie müssen also von dort hergebracht worden sein. Auch Feuerstein, der "Stahl der Steinzeit", wurde über weite Strecken gehandelt.

Wir glauben, dass die Anlage von Herxheim zuerst eine Siedlung war und am Schluss als Bestattungsort diente. Wir wissen nicht, ob das Dorf noch bewohnt war, als die Riten stattfanden, die wir untersuchen. Wenn ja, hatten die Bewohner sicher in irgendeiner Weise mit den Zeremonien zu tun.

Was kann man denn überhaupt zum Glauben dieser Menschen sagen?

Diese Frage können wir für vorgeschichtliche Kulturen im Grunde nie beantworten. Es gibt nämlich keinerlei schriftliche Quellen, die dazu etwas aussagen könnten.

Herxheim, Fabian Haack nummeriert Funde
Menschliche Schädel in einer Grube

Fest steht aber, dass die Menschen damals an eine Art Jenseits glaubten. Sonst hätten sie ihre Verstorbenen nicht sorgfältig bestattet. Sie gaben ihnen auch Gefäße, Schmuck oder Speisen wie Rinder- oder Schweinehälften mit ins Grab. Kleine tönerne menschliche Figuren, die wir immer wieder in Siedlungen finden, weisen vielleicht auf einen Ahnenkult hin. Genaueres kann man aber auch dazu nicht sagen.

Die Anlage von Herxheim zeigt jetzt mit ihrem bisher einmaligen Ritual, dass hier eine Erweiterung der Glaubensvorstellungen stattgefunden hat.

Der Vergangenheit auf der Spur

Auch wenn Indiana Jones und Lara Croft es glauben machen wollen: Archäologen retten keine Goldschätze aus explodierenden Tempeln und legen nicht en passant noch einem Schurken das Handwerk. Die Schätze nach denen sie suchen, sind Informationen, die ihnen einen Einblick in die Vergangenheit ermöglichen. Modernste Untersuchungs-Methoden helfen ihnen dabei.

Michael Münzer (l.), Fabian Haack und Andrea Zeeb-Lanz
Andrea Zeeb-Lanz und Fabian Haack, der Ausgrabungsleiter vor Ort

Die Archäologin Dr. Andrea Zeeb-Lanz, Koordinatorin der Untersuchungen von Herxheim, gibt freimütig zu, auf Spezialisten aus den Nachbarwissenschaften angewiesen zu sein, um möglichst viele Aspekte des steinzeitlichen Lebens erforschen zu können. Das betrifft beispielsweise die Frage, woher die vielen Toten kamen:

"Das untersuchen Experten aus der Archäometrie und Chemiker", erzählt Andrea Zeeb-Lanz. "Sie versuchen über die Ernährung der Menschen zu klären, auf welchen Böden sie gelebt haben, woher sie also kamen. So etwas ist heute mittels so genannter Strontium-Isotopen-Analysen möglich."

Spuren in Zähnen und Keramik

Experten messen dabei den Gehalt von Strontium, das durch die Nahrung aufgenommen wird und sich in Knochen und Zähnen einlagert. Dieser Gehalt variiert abhängig von Gestein und Boden, auf dem die Pflanzen wachsen. Die Wissenschaftler hoffen, so herausfinden zu können, ob ob beispielsweise jemand nach Herxheim gebracht wurde, der in 100 Kilometern Entfernung auf einem Granitboden gelebt hat.

Herxheim, Archäologen beim Säubern des Areals
Exakte Arbeit, um jede Spur zu finden

Noch eine Untersuchungsansatz soll die Herkunft der Toten klären: "Wir haben in den Gruben ganz unterschiedliches Keramikmaterial gefunden, das wir am Verzierungsstil unterscheiden. Dabei gibt es Stile, die wir vom oberen Elbtal und Böhmen kennen, aus dem Rhein-Main-Gebiet, aus dem Mosel-Mündungsgebiet, aus Nordhessen und aus dem Neckargebiet. Das untersucht ein Archäologe, der die Keramik datiert und auswertet.

Wir lassen die Keramik dann außerdem mit archäo-physikalischen Methoden untersuchen und die Bestandteile des Tons analysieren. Wir wollen sicherstellen, dass sie tatsächlich von einem anderen Ort kommt und nicht hier in einem fremden Stil imitiert worden ist." Die Idee dahinter: Vielleicht kam die Keramik zusammen mit den Toten nach Herxheim und könnte so Rückschlüsse auf deren Herkunft erlauben.

Experten untersuchen die Menschenknochen

Zwei Osteo-Archäologen katalogisieren mit einem Heer wissenschaftlicher Mitarbeiter die Menschenknochen, untersuchen sie und stellen zum Beispiel Schnittspuren fest. Sie haben bereits einiges über das Alter der Toten herausgefunden. Andrea Zeeb-Lanz: "Im Anteil der Knochen, bei dem wir das Alter und Geschlecht der Toten bestimmen können, ist vom gerade geborenen Säugling bis zum Greis alles vorhanden. Aber wir können nicht alle Knochen daraufhin bestimmen, weil sie so klein zerhackt sind."

Herxheim, menschlicher Schädel mit Schnittspuren
Schnittspuren auf einem Schädel

Fachleute für jede Fundart

Die Tierknochen untersucht eine Archäo-Zoologin, die die Tierrassen, die es früher gab, sehr gut kennt. Die so genannten Knochengeräte – also Nadeln, Pfrieme und Ahlen aus Knochen – untersucht ebenfalls ein Spezialist. Es gibt einen Bearbeiter der Steinwerkzeuge, der auch die Rohstoffe, aus denen sie gemacht sind, mit der Unterstützung von Geologen exakt bestimmt. Ein Sedimentologe untersucht die Ablagerungen im Boden und kann so viel zur Geschichte der Spuren im Boden sagen.

Ein Archäo-Botaniker untersucht die Makroreste aus Erdproben, also verkohlte Pflanzen- und Faserreste, und klassifiziert sie genau. Er kann genau bestimmen, was ein Ackerunkraut, was Emmer oder Bohnen waren.

Untersuchungen ohne Hacke und Schaufel

Man braucht nicht unbedingt Hacke und Schaufel, um herauszufinden, was sich unter der Erde verbirgt. Andrea Zeeb-Lanz erzählt, wie das geht: "Schon vor der Ausgrabung, aber auch jetzt, setzen wir geophysikalische Untersuchungen ein, das macht ein Geoprospekteur. Wir arbeiten mit Geomagnetik und messen mit einer Sonde den Erdmagnetismus bis in rund 80 Zentimeter Tiefe. Der ist im gewachsenen Boden normalerweise einheitlich, aber eine Grube hat einen ganz anderen Magnetismus. Im Computer zeichnet sich solch eine Anomalie dann ab. Bevor wir den ersten Spatenstich getan hatten, wussten wir bereits, dass wir die beiden Grubenringe voll erfassen werden."

Und schließlich gibt es noch Experten in luftiger Höhe: Luftbildarchäologen erstellen senkrecht aufgenommen Bilder aus mehreren hundert Metern Höhe. So bekommen die Experten einen sehr viel besseren Überblick über die Grubenringe und das jungsteinzeitliche Dorf von Herxheim.

Stand
AUTOR/IN
Diane Scherzler