Es gibt einige Krankengeschichten, die sich durch die Weltliteratur hüsteln. Die einer kleinen Gruppe in Quarantäne (Giovanni Boccaccio), des letzten einsamen Menschen (Mary Shelley), von Männer mit Zipperlein (Thomas Mann), einer versuchten Stadt (Albert Camus) oder eines Seuchen-Sommers (Philipp Roth) – Epidemien und Leiden dienen in der Literatur immer wieder als Kulisse für Reflexionen über das Menschsein.
Pandemien werden von Schriftstellerinnen und Autoren genutzt, um menschliche Ängste zu spiegeln. Denn Krankheit, Tod und Isolation sind nicht nur existenzielle Erfahrungen (das Leben ist endlich!), sondern auch gesellschaftliche Prüfsteine. Sie offenbaren politische Strukturen, soziale Dynamiken und die Fragilität des Fortschrittsglaubens.

Covid-19 prägt die Gegenwartsliteratur
Fünf Jahre nach dem ersten Auftreten von Covid-19 zeigt sich: Die Pandemie hat nicht nur das reale Leben, sondern auch die Literatur nachhaltig geprägt. Neben zahlreichen Todesfällen, Selbsttests, Lockdowns und Verschwörungsmythen hinterließ sie eine neue literarische Strömung: die Corona-Literatur. Diese hat sich über die Jahre sowohl thematisch als auch ästhetisch gewandelt.
Zeiten der Isolation: Dokumentation in Tagebüchern
Es begann mit dem Lockdown. Alle saßen fest, nichts ging mehr. Während am 20. März 2020 die Ladenbesitzer die Schotten dichtmachten und das Land über Systemrelevanz diskutierte, setzten sich die Schreibenden an die Tastatur. Der erste Reflex auf die Krise war die Dokumentation – oft in Tagebuchform.
Ein Beispiel ist Carolin Emckes „Journal. Tagebuch in Zeiten der Pandemie“ (2021). Weniger als ein Jahr nach dem pandemischen Ausnahmebetrieb erschien bereits das Journal der Philosophin mit allgemeinen Überlegungen zum Virus und zum Weltgeschehen – aber auch (dafür eignet sich das Tagebuch bekanntlich besonders) mit intimen Gedanken der Autorin.
Eine Qualität der Texte, die in Zeiten der Isolation entstanden, ist, dass sie Nähe herstellen. Vielleicht wird das Identifikationspotential gesteigert, wenn überall nichts passiert, und es weniger Unterschiede im Alltag gibt.

Kontroverse in der Literaturwelt
Die österreichische Autorin Marlene Streeruwitz veröffentlichte, einem Tagebuch ähnlich, wöchentlich Online-Texte, die später als Buch „So ist die Welt geworden. Der Covid19 Roman“ erschienen.
Ihre stark umstrittenen politischen Statements – etwa der Vergleich der Hygienemaßnahmen mit den Nürnberger Rassegesetzen in einem Artikel der Zeitung „Der Standard“ – zeigten wie kontrovers die Auseinandersetzung mit der Pandemie auch in der Literaturwelt war.
Fang Fangs „Wuhan Diary“
Die unmittelbare schriftliche Auseinandersetzung mit der Pandemie fand dabei nicht nur in literarischen, sondern auch politischen Sphären statt.
International setzte die chinesische Schriftstellerin Fang Fang mit ihrem „Wuhan Diary“ (2020) Maßstäbe. Ihr Zeitzeugenbericht wurde kolumnenhaft in Echtzeit auf der Social-Media-Plattform Weibo (eine chinesische Version von Twitter) veröffentlicht und in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Hierzulande erschien die Textsammlung bei Hoffmann und Campe in Übersetzung von Michael Kahn-Ackermann.
In ihrem Heimatland wurde sie zensiert. Zunächst war Fang Fang dort für ihr Schreiben gefeiert worden. Mit dem „Wuhan Diary“ wurde die Autorin jedoch zur Zielscheibe für Nationalisten in den sozialen Medien. Der Vorwurf: Sie würde China im Westen verunglimpfen.
Postpandemische Belletristik: Exegesen des Ausnahmezustands
Mit fortschreitender Zeit wandelte sich der literarische Blick auf die Pandemie. Während die frühen Texte unmittelbare Erfahrungen dokumentierten, setzten spätere Werke auf eine tiefere Verarbeitung der gesellschaftlichen und psychologischen Folgen.
Ein zentrales Motiv bleibt die Isolation und die Ereignislosigkeit. So beschreibt Anna-Katharina Hahn in „Der Chor“ (2024) die Bedeutung weiblicher Gemeinschaft und Musik nach der Pandemie.
Sigrid Nunez siedelt „Die Verletzlichen“ (2023) im Frühjahr 2020 in New York an, wo die Wohlhabenden dekameronenhaft die Stadt verlassen haben. Ihre Protagonistin sucht in der erstarrten Metropole Trost und Gesellschaft – als Papageien-Sitterin. Der Roman reflektiert damit nicht nur die Pandemie, sondern auch soziale Ungleichheiten.
Reflexion und Aufarbeitung
Mittlerweile sind wir in einer retrospektiven Betrachtung der Pandemie angekommen: Jüngst verarbeitete der Schweizer Jonas Lüscher in seinem mal begeistert, mal kritisch besprochenen Roman „Verzauberte Vorbestimmungen“ seine eigene Corona-Infektion.
Der Erzähler übersteht, genau wie der Autor Lüscher, die Krankheit nur dank moderner medizinischer Technik. Eine einschneidende Erfahrung für den Schriftsteller, die ihn dazu inspirierte, das Verhältnis Mensch und Maschine zu reflektieren.

Universale Geschichten stehen noch aus
Während Albert Camus’ „Die Pest“ von 1947 beispielsweise deutlich als politische Metapher verstanden werden kann – das algerische Oran („unsere Stadt“) ist verseucht von der Pest, wie die Welt versucht ist vom Faschismus der Nationalsozialisten – stehen die Allegorien für die Corona-Pandemie noch aus.
Welche tiefen Furchen hinterließ sie im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt? Wie beeinflusste die Pandemie heutige politische Gesinnungen? Und hat sich danach manches zum Besseren entwickelt? Solche Auseinandersetzungen, die über das Dokumentarische hinausgehen und existenzielle Fragen in universelle Geschichten verwandeln, müssen literarisch noch erzählt werden.