Buchkritik

Florentine Anders – Die Allee

Stand
Autor/in
Ina Beyer

Hermann Henselmann – Schöpfer des Berliner Fernsehturms und des Leipziger Universitätshochhauses. Seine Enkelin Florentine Anders beleuchtet in „Die Allee“ nicht nur seine Bauten, sondern auch die Geschichte ihrer Familie.

„Es gibt drei große Männer in Deutschland. Thomas Mann, Heinrich Mann, Henselmann.“ Der Mann, der das sagte, hatte Humor. Aber auch ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein: Es war der Architekt Hermann Henselmann.

Der wohl bedeutendste Baukünstler der DDR war im Herzen immer ein Anhänger der Moderne. Als er 1949 aber an der Planung der Berliner Stalinallee, der heutigen Karl-Marx-Allee, beteiligt war, musste er Kompromisse eingehen. Entsprechend des „Nationalen Aufbauprogramms“ war das klassizistische Erbe Doktrin.

Henselmann entwarf die vier markanten Türme am Frankfurter Tor und am Strausberger Platz: dem östlichen und westlichen Ende der Allee. Bis heute aber ist sein Name Synonym für den gesamten Prachtboulevard mit historisierendem Antlitz.

Florentine Anders meint: „Das ist auch ein bisschen Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet damit immer sein Name verbunden bleibt und Viele gar nicht wissen, dass er eigentlich viel mehr aus der Moderne kam und das dann auch durchgesetzt hat mit in der DDR, was man dann sieht am Haus des Lehrers und der Kongresshalle zum Beispiel."

Oder dem weithin sichtbaren, unverwechselbaren Berliner Fernsehturm, der die Silhouette der Stadt bis heute prägt. – All diese Bauwerke sind Ikonen der Ostmoderne. Ihr Buch über den berühmten Großvater nennt Florentine Anders trotzdem „Die Allee“ – vielleicht hat sie da auch an den französischen Wortursprung „aller“ für „spazieren“ oder „gehen“ gedacht.

Und so ist ihr Roman eine aufschlussreiche Wanderung: nicht nur durch das Leben des bekannten Architekten und seiner großen Familie, sondern auch entlang 100-jähriger Baugeschichte.

Ein Roman nah an der Realität, der aus vielen Perspektiven berichtet

Das Besondere daran: der persönliche Blick auf die Häuser und Menschen. Ein Blick zumal, der den realen Geschehnissen ganz nah auf den Fersen bleibt, selten in die Fiktion abschweift, viele Perspektiven einnimmt. Neben der Hermann Henselmanns auch die seiner Frau Irene, genannt Isi, die immer wieder versucht, in der Baukunst Fuß zu fassen.

Isi will sich nicht länger der Herausforderung entziehen Und sich über entgangene Möglichkeiten ärgern. In der DDR kann auch eine Frau mit acht Kindern eine erfolgreiche Architektin sein. Den Beweis gilt es anzutreten. Für das Hochhaus in der Weber Wiese hat sie ihre ersten eigenen Entwürfe für funktionale Einbauküchen gemacht.

Sie orientiert sich dabei an der berühmten Frankfurter Küche von Margarete Schütte-Lihotzky. Bezeichnend: keine Häuser oder Wohngebiete, eine Küche entwirft Isi Henselmann. Mehr ist nicht drin, auch nicht in der jungen DDR. Das Haus an der Weberwiese, in das diese Küchen eingebaut werden, hat ihr Mann Hermann entworfen.

Allerdings nur mit Mühe und Trotz hat er sein modernes Punkthochhaus gegen den Willen der Partei durchsetzen können. Und mit dem Zuspruch seines Freundes Bertolt Brecht, der ihm Mut machte.

Hermann ist aufgebracht bringt laut und übersprudelnd all seine Argumente hervor. Brecht hört zu und reagiert dann reagiert ruhig und besänftigend. Die Arbeit der Klasse sei eben noch nicht reif für die Moderne. Der Künstler dürfe sich nicht über das Volk erheben, sondern müsse den Menschen kleinere Schritte zumuten und sie behutsam in die richtige Richtung bewegen. Erst wenn sich das Bewusstsein verändert habe, werde auch die neue Form populär werden.

Hermann Henselmann – eine komplexe Persönlichkeit

Tochter Isa erlebte Brecht noch im Hause Henselmann. Sie ist die Mutter der Autorin. Auch sie ist eine Protagonistin des Romans. Isa hatte es als Kind nicht leicht in der Familie. Der zu Jähzorn und Wutausbrüchen neigende Vater hat sie oft verprügelt. Das Gesicht des Kindes auf den Fliesenboden geschlagen.

Darüber zu schreiben, gehört dazu, sagt Florentine Anders. Sie selbst hat ihren Großvater vor allem als liebevollen Anreger kennengelernt.

Hermann gab mir jedes Mal ein Buch, bis zum nächsten Treffen sollte ich es gelesen haben, damit wir gemeinsam darüber reden können. Er gab mir selbstverständlich keine Kinderbücher, sondern Bücher von Thomas Mann oder Bertolt Brecht. Jedes Mal lag eine kleine Auswahl, die er sich für mich überlegt hatte, auf seinem Schreibtisch und ich durfte mir ein Werk daraus auswählen.

Die komplexe Persönlichkeit Henselmanns auf den Punkt gebracht hat die Schriftstellerin Brigitte Reimann, eine sehr enge Freundin der Familie, weiß Anders: „Brigitte Reimann hat einmal gesagt, wenn man Henselmann beschreiben will, dann muss man einfach alle Gegensätze die einem einfallen, aufzählen und dann liegt man so ganz richtig."

Der Roman erzählt chronologisch und schaut dabei immer wieder auf die unterschiedlichen Lebensphasen und -entwürfe seiner drei Hauptpersonen Herrmann, seiner Frau Isi und Tochter Isa (eines der insgesamt acht Kinder!), blickt auf ihre Arbeitsweisen, Erfolge und Niederlagen, entwirft ein lebenspralles Bild dieser berühmten DDR-Familie.

Ikonen der Ostmoderne – Vom Fernsehturm bis zum Haus des Lehrers

Zugleich sieht man vor dem geistigen Auge die imposanten Türme am Strausberger Platz wachsen und die ersten Mieter in die großzügigen Wohnungen einziehen, darunter zahlreiche Trümmerfrauen und Arbeiterfamilien, erblickt den Fernsehturm mit seiner unverwechselbaren Kugel, um deren Urheberschaft zäh gestritten wurde und die Kongresshalle mit dem Haus des Lehrers am Alexanderplatz.

„Die Allee“ ist nicht das erste Buch über Hermann Henselmann. Aber es eröffnet neue Perspektiven auf den Architekten, seine Bauten und die Menschen an seiner Seite.

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