Giacomo Puccinis erste große Erfolgsoper „Manon Lescaut“ überwältigt durch grandiose Musik. Am Opernhaus Zürich hat Barrie Kosky, ein idealer Regisseur gerade für Bilder der Weiblichkeit, die oft mit falschen Klischees behaftet sind, Puccinis Oper neu befragt. Elena Stikhina brilliert in der Titelpartie, Marco Amiliato überzeugt mit explosivem Dirigat.
Amiens liegt auf halber Strecke zwischen Paris und Brüssel. In Belgien hat der Maler James Ensor ein eigenartiges Panoptikum von Bürgern in bunten Farben und clownhafter Maskerade auf die Leinwand gebracht. Oft gesellen sich bekleidete Skelette zu ihnen.
Eine solche Gesellschaft, Ensors Gemälde „Die Intrige“ entnommen, versammelt sich nun im ersten Akt von Giacomo Puccinis „Manon Lescaut“ in Barrie Koskys Inszenierung am Opernhaus Zürich.

Es beginnt in Amiens auf einer Poststation mit einer Intrige. Manon soll eigentlich ins Kloster, der Bruder versucht sie aber an den reichen Geronte zu verkaufen. Der Möchtegern-Poet Des Grieux verliebt sich auf den ersten Blick und entführt sie nach Paris.
Es sind lebenshungrige, junge Menschen, die hier in eine Verwesungsgesellschaft geraten sind. Darstellerisch und stimmlich der grandiose Chor der Oper Zürich.

Manon auf Kutschfahrt in den Tod
Das 18. Jahrhundert hat Kosky gekippt, aber die von Pferden gezogene Reisekutsche gibt es. Ihr Kutscher: ein uniformiertes Skelett. Diese Reise geht in den Tod. Und „Manon Lescaut“ ist ein Stationendrama: Amiens, Paris, Le Havre, von wo aus die Geronte hintergehende Manon deportiert werden soll und Amerika, wo sie verdurstend in den Armen des hilflosen Des Grieux verendet.
Vier von Rufus Didwiszus gestaltete Kutschen entsprechen diesen vier Stationen. Eine goldene, barock geschmückte für den goldenen Käfig Gerontes, aus dem Manon sich von Des Grieux befreien lässt, eine vergitterte Gefängniskutsche für die Deportation und schließlich das Skelett einer Kutsche, das Des Grieux und Manon am Ende selbst durch die Wüste ziehen müssen.

Die Stationen sind wie Szenen eines Films, der absichtsvoll auf Lücke gesetzt ist durch einige Handlungsauslassungen. Die Hauptfiguren in diesem Melodram sind Menschen unserer gegenwärtigen Realität.
Konfrontiert werden sie mit dem an Ensor angelehnten Surrealismus einer Masse, die mal heiter, mal festlich, mal boshaft gestimmt ist. Der Tod aber sitzt immer unter ihnen.
Elena Stikhina billiert als Manon Lescaut
Und dann ist da Manon, die nur leben will, aber zum Gegenstand allerlei männlichen Begehrens gemacht wird. Vom Bruder Lescaut, von Geronte und auch von Des Grieux. Nur im Tod kann sie sie selbst sein.
Hier zeigt sich, welch großartiger Opernregisseur Barrie Kosky ist. Vor einer verblassten Landschaftstapete singt sie in der Leere der Bühne stehend ihr letztes Bekenntnis des Lebenswillens, bevor sie zusammenbricht.

Hier ist alles auf eine Karte gesetzt. Die heißt Elena Stikhina, mit einer grandios überwältigenden Wandlungsfähigkeit von der Unschuld, über Rebellion und Verzweiflung bis hin zur tragisch schuldlos in den Verdurstungstod Getriebenen. Und nie verlässt sie die lyrische Schönheit.
Exzellente Besetzungen bei den Männerrollen
Daneben haben es alle anderen schwer. Sie sind dennoch exzellent, der geschmeidige Konstantin Shushakov als Lescaut, Shavleg Armasi als lüstern-gefährlicher Geronte und der strahlende Saimir Pirgu als hell-forscher Des Grieux.
Aber die Oper heißt nun einmal „Manon Lescaut“. Sie steht hier wie vor einer Filmkamera im Zentrum eines Melodrams à la Hitchcock.

Barrie Kosky gelingt vollendetes Musiktheater
In dieser präfilmischen Sichtweise wird Kosky kongenial von Marco Armiliato am Pult der Philharmonia Zürich mit einem explosiven Dirigat unterstützt. Er leitet Puccinis sinfonischen Fluss mit passendem Drive und perfekter Akzentuierung der oft unterschätzten instrumentatorischen Raffinesse.
Warum Kosky am Ende ein paar Buhs abbekommt, ist unverständlich. Denn diese Züricher „Manon Lescaut“ ist perfekt vollendetes Musiktheater.
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