Die Kinderlähmung gehörte noch vor wenigen Jahrzehnten zu den am meisten gefürchteten Krankheiten. Eine weltweite Impfkampagne konnte die Virus-Erkrankung mit dem medizinischen Namen Poliomyelitis, kurz Polio, weitgehend eindämmen. Doch ausgerottet ist die Krankheit bislang nicht.
Am 24. Oktober ist Welt-Polio-Tag. Für die allermeisten spielt die Krankheit, bis auf die Impfungen im Kinder- und Jugendalter, keine Rolle mehr. Der letzte Fall in Deutschland ist mehr als 20 Jahre her. Doch 2022 wurden mehrfach Polioviren im Abwasser in New York und London nachgewiesen. Nördlich von New York City gab es sogar einen symptomatischen Krankheitsfall. Auch in Großbritannien und Israel wurden Polioviren nachgewiesen. Kommt die Kinderlähmung zurück? Warum?
Letzter Fall in den 1990ern
Die Kinderlähmung ist selten geworden. So selten, dass viele Eltern heute nie mit der Krankheit in Kontakt gekommen sind, und auch viele junge Ärztinnen und Ärzte kennen sie nur aus den Lehrbüchern. Die Isolation des Polio-Erregers gelang erstmals im Jahr 1953, die ersten Polio-Massenschutzimpfungen starteten 1957. In Deutschland hat es nach Angaben des RKI Anfang der 1990er Jahre die letzten nachgewiesenen Poliofälle durch Wildviren gegeben. Seit 2002 gilt Europa als poliofrei. Aber auch hier ist es möglich, dass es erneut zu Fällen kommen kann.
Kinderlähmung wird über Tröpfchen und durch Schmierinfektion übertragen
Die Kinderlähmung ist nicht ausgerottet. Zumindest nicht überall. Vor allem im Nahen Osten, in Afghanistan und Pakistan sind die entsprechenden Viren noch heimisch und können sich von dort verbreiten. Außerdem kann die Nutzung von Lebendimpfstoffen zu Ausbrüchen führen, weshalb man heute vor allem Totimpfstoffe einsetzt.
Ausgelöst wird die Kinderlähmung durch sogenannte Polioviren, die sich vor allem im Darm vermehren. Sie werden durch eine Schmierinfektion, also Berührungen verbreitet, aber auch über Tröpfchen in der Luft.
Hirnhautentzündung und Lähmung als mögliche Folgen einer Polioinfektion
In den meisten Fällen verläuft eine Infektion recht harmlos, viele merken gar nichts davon. In leichten Fällen bekommen Infizierte etwas Fieber oder einige Tage Magen-Darm-Probleme.
Doch nicht alle kommen so glimpflich davon: Bis zu fünf Prozent der Infizierten entwickeln laut Robert Koch-Institut eine gefährliche Hirnhautentzündung, bei bis zu einem Prozent kommt es zu der sogenannten paralytischen Poliomyelitis.
Hinter diesem Begriff verstecken sich die gefürchteten Lähmungserscheinungen bei den oft jungen Patienten. Am häufigsten sind die Beine betroffen. Es ist aber auch möglich, dass Arme, Bauch- oder Augenmuskeln gelähmt werden.
An solchen schwereren Verläufen der Kinderlähmung sind zu den Hochzeiten tausende Betroffene gestorben. Doch auch Überlebende haben oft mit lebenslangen Folgen zu tun: Denn die Lähmungen bilden sich zwar zum Teil zurück, meist aber nicht komplett.
Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung grausam
Doch es gibt einen wirksamen Schutz vor der Kinderlähmung: Seit den 60er-Jahren wird in Deutschland gegen die Polioviren geimpft, zuerst mit der Schluckimpfung aus abgeschwächten Viren, einem sogenannten Lebendimpfstoff. Die Zahlen der Infektionen gingen seitdem rapide zurück.
Seit Ende der 1990er Jahre werden andere, weniger riskante Impfstoffe verwendet, die nicht mehr geschluckt, sondern in den Muskel gespritzt werden. Sie gehören zu den Routine-Impfungen von Säuglingen, vorgesehen sind drei Dosen im ersten Lebensjahr und eine Auffrischung beim Schulkind. Geimpften Erwachsenen wird bei Reisen in betroffene Länder ebenfalls eine Auffrischung empfohlen.
Angst vor Polio schwindet
In Deutschland erhalten laut Robert Koch-Institut zurzeit etwa 90 Prozent der Babys die vorgesehenen Polio-Impfungen. Das klingt viel, doch Experten warnen: Um das Virus effektiv in Schach zu halten, wären eigentlich 95 Prozent notwendig. Doch hierzulande hätten viele Eltern die Angst vor der Krankheit verloren – auch ein Ergebnis der erfolgreichen, weltweiten Impfkampagne.
Bestimmte Gruppen, die Impfungen kritisch gegenüberstehen, können die Impfquote regional noch weiter senken. Ein Beispiel aus den USA: In Rockland County, etwa 50 Kilometer nördlich von New York, leben viele orthodoxe Juden, die als besonders impfkritisch gelten. Die Impfquote beträgt hier nur 60 Prozent. Ein zwanzigjähriger Mann, der der jüdisch-orthodoxen Gemeinde angehört, erkrankte im Juli 2022 an Polio und hat laut Medienberichten auch Lähmungen davongetragen.
Dass hier und anderswo Viren im Abwasser nachgewiesen wurden, lässt vermuten, dass es noch mehr Polio-Fälle in der Bevölkerung geben muss oder gegeben hat – vor allem da auch verschiedene Virusstämme gefunden wurden. Menschen infizieren sich unwissentlich, entwickeln zwar keine Symptome, aber geben das Virus weiter und scheiden es aus.
So gelangt es dann ins Abwasser. Solange es in der Bevölkerung zirkuliert, besteht auch die Gefahr, dass es wieder zu einem symptomatischen Fall kommt. Nur mit einer deutlich höheren Impfquote ist es möglich, das Virus wieder zurückzudrängen und bestenfalls irgendwann komplett auszurotten.
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Von Wolfgang U. Eckart
14.1.1953 Isolation des Polio-Erregers
14.1.1953 | Jährlich sterben in Deutschland Tausende an der Kinderlähmung bzw. Polio. Es gibt noch keine Impfung. Am Institut für Virusforschung wurde unter der Leitung von Prof. Gustav-Adolf Kausche eine große Zentrifuge gebaut, um den Erreger erstmals zu isolieren.