Medizinethik

Triage – Die schwierige Entscheidung über Leben und Tod

Stand
Autor/in
Franziska Ehrenfeld
Onlinefassung
Ralf Kölbel

In Deutschland ist die Corona-Pandemie bislang weitgehend unter Kontrolle. Deshalb wurde nie ausdiskutiert, nach welchen Leitlinien im Ernstfall über Leben und Tod entschieden wird.

Mit Blick auf die dramatische Lage im März in Ländern wie Italien und Spanien haben sich auch deutsche Ärztinnen und Ärzte gefragt: Was, wenn ich über Leben und Tod entscheiden muss? Wie soll ich das tun, gibt es Entscheidungshilfen? 

DIVI hat Handlungsempfehlungen ausgearbeitet

Viele Krankenhäuser haben sich wegen dieser offenen Fragen an Ethikkomitees gewandt. Und die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin – kurz DIVI – hat im März Handlungsempfehlungen für den Ernstfall ausgearbeitet. Georg Marckmann war daran beteiligt.  

Der Münchener Medizinethiker Prof. Dr. Georg Marckmann
Der Münchener Medizinethiker Prof. Dr. Georg Marckmann

Wir haben uns dabei leiten lassen von der Überlegung, wie man denn wohl so eine Situation regeln wollen würde. Und wir sind zu dem Schluss gekommen, dass die meisten wahrscheinlich einverstanden wären, wenn der Umgang mit der Knappheit so geregelt ist, dass die meisten Menschenleben gerettet werden können. Oder anders ausgedrückt: So, dass es die wenigsten vermeidbaren Todesfälle gibt. 

Die Empfehlungen der DIVI besagen: Alle Patienten, die eine intensivmedizinische Behandlung dringend benötigen, sollen danach bewertet werden, wie gut ihre Aussichten auf Genesung sind. 

Covid-19 Erkrankter aus Italien wird in Dresden intensivmedizinisch betreut
Wer wird intensivmedizinisch behandelt, wenn das medizinische System überlastet ist? Für die sogenannte Triage gibt es in Deutschland keine klaren Regeln.

Diese Überlebenschancen werden von der DIVI wiederum anhand von drei Fragen festgemacht: 

  • Wie schwer ist die Erkrankung?
  • Welche relevanten Vorerkrankungen liegen vor?
  • Wie ist der allgemeine Gesundheitszustand – also wie gebrechlich ist der Patient?

Diese letzte Frage soll anhand der sogenannten Clinical Frailty Scale – einer Gebrechlichkeitsskala für Menschen ab 65 Jahren – bewertet werden. 

Leitlinien stoßen auf Kritik

Nancy Poser ist Amtsrichterin in Trier. Sie leidet an Muskelschwund und ist auf einen Rollstuhl angewiesen. Laut der 40-Jährigen geht aus den DIVI-Richtlinien nicht deutlich genug hervor, dass die Gebrechlichkeitsskala nur für ältere Menschen anzuwenden ist – nicht aber für Menschen, die wegen einer Behinderung auf Hilfe angewiesen sind.

Aber nicht nur deshalb sieht Poser die Leitlinien kritisch: Die Wahrscheinlichkeit für einen Behandlungserfolg sei nicht sicher vorhersehbar und die Auswahl danach nicht verfassungskonform. Man dürfe Menschenleben nicht gegeneinander abwägen. 

Zum Beispiel beim Luftsicherheitsgesetz wurde ganz klar gesagt, was verboten ist. Da war ja der Fall, dass ein Flugzeug entführt wurde und die Menschen an Bord quasi keine Chance mehr haben, zu überleben. Weil es so oder so in beispielsweise ein voll besetztes Stadion fliegen wird. Und dann war die Frage: Darf man dieses Flugzeug abschießen, um die Menschen im Stadion zu retten?

Da hat schon das Verfassungsgericht gesagt: Ganz klar nein, weil die Menschen im Flugzeug nur noch zu Objekten gemacht würden, um die anderen zu retten. Das geht nicht. 

Alternative Losentscheid?

Aus der Sicht von Nancy Poser müsse jeder Mensch die gleiche Chance haben, auf der Intensivstation behandelt zu werden. Ihre Maxime lautet deshalb: „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.“ Also der Patient, der zuerst eingeliefert wird, wird auch behandelt. Für Poser wäre in diesem Kontext auch ein Losentscheid ein faires Auswahlkriterium. Georg Marckmann von der DIVI sieht das kritisch. 

In Frankreich war das medizinische System durch die vielen schweren Covid-19-Erkrankten phasenweise völlig überlastet.
In Frankreich war das medizinische System durch die vielen schweren Covid-19-Erkrankten phasenweise völlig überlastet.

Man sollte sich dann der Konsequenzen bewusst sein. Es werden im Gegensatz zu einer Zuteilung orientiert an der Erfolgsaussichten nicht nur Menschen sterben, die ohnehin eine große Wahrscheinlichkeit haben, auch mit Intensivtherapie zu versterben, sondern es werden auch solche Menschen sterben, die man mit Intensivtherapie mit einer guten Chance hätte retten können. 

Der Deutsche Ethikrat sieht das ähnlich. Er verweist neben grundlegenden verfassungsrechtlichen Vorgaben auch auf Leitlinien der Fachgesellschaften – wie also der DIVI. 

Soll der Bundestag eingreifen?

Gleichzeitig schreibt der Ethikrat aber: Wer sich an die Empfehlungen hält, könne zwar im Fall einer möglichen strafrechtlichen Aufarbeitung mit Nachsicht rechnen, aber das aktive Beenden einer laufenden, weiterhin medizinisch notwendigen Behandlung sei trotzdem faktisch nicht rechtens. 

Wäre es dann nicht die Aufgabe des Gesetzgebers, hier einzuschreiten? Steffen Augsberg vom Deutschen Ethikrat: 

Das ist ausgesprochen schwierig, weil der Staat natürlich nicht untätig geblieben ist. Es gibt Kriterien in negativer Hinsicht, dass man bestimmte diskriminierende Maßnahmen nicht ergreifen kann. Das heißt, die Ärzte und Ärztinnen sind keineswegs frei, wie sie agieren.

Und auf der anderen Seite wären aber positive Vorgaben, also Maßgaben wer also unter welchen Vorstellungen auszuwählen ist, kaum vereinbar mit dieser Grundidee unserer Verfassung, dass alle Menschen gleich zu behandeln sind.  

Steffen Augsberg, Uni Gießen.Der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Steffen Augsberg von der Uni Gießen ist Mitglied des Deutschen Ethikrats.
Der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Steffen Augsberg von der Uni Gießen ist Mitglied des Deutschen Ethikrats.

Der Gesetzgeber dürfe in diesem Sinne keine konkreten Richtlinien zur Triage festlegen. Die Richterin Nancy Poser sieht das anders.

Die Politik muss sich da einmischen. Weil der Gesetzgeber eine verfassungsrechtliche Verpflichtung hat, die Bürger davor zu schützen, das Dritte in ihr Recht eingreifen – was hier eben passiert.  

Eigentlich sollte die Politik klare Richtlinien für medizinische Entscheidungen in Extremsituationen liefern, findet Nancy Poser.
Eigentlich sollte die Politik klare Richtlinien für medizinische Entscheidungen in Extremsituationen liefern, findet Nancy Poser.

Auch die DIVI kritisiert Schweigen der Politik

Interessant ist: Georg Marckmann, der an den DIVI-Leitlinien mitgearbeitet hat, sieht das im Prinzip genauso.

Als wir uns als Fachgesellschaften überlegt haben, solche Empfehlungen zu erarbeiten, haben wir schon gedacht, dass eigentlich nicht wir diejenigen sind, die für solche Empfehlungen legitimiert sind. Sondern eigentlich hätten solche Empfehlungen von politischer Seite erstellt werden müssen. 

Und das hat der Gesetzgeber in anderen Bereichen ja auch getan: Im Transplantationsgesetz ist vorgeschrieben, dass die Verteilung der knappen Organe, die auch mit Lebenschancen verbunden sind, insbesondere nach dem Kriterium der Dringlichkeit und der Erfolgsaussicht zugeteilt werden sollen.

Es ist eigentlich ein Versäumnis der Politik, das Ärztinnen und Ärzte mit diesem drohenden Problem einer möglichen Triage-Situation alleine gelassen hat. 

Rechtsunsicherheit bleibt bestehen

Laut Steffen Augsberg vom Deutschen Ethikrat sei diese Rechtsunsicherheit ein Stück weit gewollt: 

Uns stand vor Augen, dass berechtigte Ängste eben nicht nur auf Seiten der handelnden Mediziner bestehen, sondern auch auf Seiten derjenigen, die Angst haben, dass sie von vornherein aussortiert werden. Deshalb wollten wir da einen Mittelweg fahren. Das ist, glaube ich, die schwierige Aufgabe.

Und als Gesellschaft haben wir uns ja zurecht bemüht, aber eben auch unter großen Kosten bemüht, genau deshalb diese Triage-Situation gar nicht erst eintreten zu lassen. 

In Deutschland ist die Versorgung mit Intensivbetten relativ gut. Doch eine ungebremste Ausbreitung einer Pandemie würde auch das deutsche Gesundheitssystem wohl nicht verkraften.
In Deutschland gibt es im Moment genügend Intensivbetten. Eine ungebremste Ausbreitung einer Pandemie würde aber auch das deutsche Gesundheitssystem nicht verkraften.

Die Diskussion über die Triage ist komplex, emotional aufgeladen und sie wird kontrovers geführt. Auch im Bundestag gehen die Meinungen auseinander: 

Die Gesundheits- und Justizminister Jens Spahn und Christine Lambrecht sehen keine Notwendigkeit für eine gesetzliche Regelung. Die Grünen-Fraktion fordert dagegen eine politische Debatte. Die FDP will auf Fachgesellschaften wie die DIVI und die Ärzteschaft vertrauen. Der Gesetzgeber solle klarstellen, dass Ärzte und Ärztinnen wegen möglicher Entscheidungen keine strafrechtlichen Konsequenzen drohen. Die SPD möchte sich momentan nicht äußern. Union, AfD und Linke haben auf unsere Anfrage nicht geantwortet.

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Franziska Ehrenfeld
Onlinefassung
Ralf Kölbel