Medizin

Seltene Krankheiten – wenig Forschung, insgesamt viele Betroffene

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Autor/in
Thomas Hillebrandt
Thomas Hillebrandt, Redakteur und Reporter bei SWR Wissen aktuell
Onlinefassung
Ralf Kölbel

Schätzungen zufolge sind allein in Deutschland rund vier Millionen Menschen von seltenen Krankheiten betroffen. Das Problem: Es gibt meist wenig Forschung und Therapiemöglichkeiten.

Seltene Krankheiten haben eines gemeinsam: Es gibt nur wenige Fälle auf 10.000, 100.000 oder gar eine Million Menschen. Für die Betroffenen und ihre Angehörigen heißt das: Sie müssen beständig gegen die Statistik kämpfen und erleben, dass die medizinische Forschung auf den jeweils so kleinen Gebieten nur schleppend vorankommt.

Millionen Betroffene auch in Deutschand

Doch die Statistik belegt auch, dass sich die Gesamtzahl der Betroffenen zu großen Zahlen summiert. In der EU leiden etwa 30 Millionen Menschen unter einer seltenen Erkrankung, weltweit etwa zehnmal so viele. In Deutschland sind es Schätzungen zufolge ungefähr vier Millionen Menschen. Es ist also kein Thema, dass nur eine Minderheit angeht.

Vom 13. bis 15. Oktober 2022 trafen sich in Lausanne Wissenschaftler:innen und Mediziner:innen aus der ganzen Welt, um sich über die neuesten Erkenntnisse über die seltene Neurodegeneration mit Eisenspeicherung im Gehirn - kurz: NBIA - auszutauschen.

Ein Forschender tropft eine Lösung in eine Petrischale.
Seltene Krankheiten sind meist nur wenig erforscht. Es gibt nur begrenzte Forschungsgelder und da gibt es einen großen Wetbewerb, weil es sehr viele unterschidliche seltene Erkrankungen gibt.

Seltene Erkrankungen verändern den Alltag betroffener Familien radikal

Markus N. hat seine Tochter aus der Schule abgeholt. So, wie es viele Väter und Mütter tun, Elternalltag. Doch bei der Familie aus Heidelberg ist nichts alltäglich. Emilia hat eine schwere Krankheit, sitzt im Rollstuhl und nach der Schule setzt sich ein Leben fort, das nichts mit dem Alltag anderer Familien zu tun hat.  

Emilia hat eine neurodegenerative Erkrankung: Die „Beta-Propeller-Protein-assoziierte Neurodegeneration“, kurz „B-PAN“ ist eine Krankheit, die nur 2 bis 3-mal pro 1 Million Geburten auftritt, eine der weltweit seltensten Erkrankungen. In Deutschland gibt es nur einige Dutzend Fälle.

Die Krankheit prägt sich schon im frühen Kindesalter aus und führt zu einer Entwicklungsstörung: Emilia kann nicht laufen und nicht sprechen. Wie bei vielen seltenen Erkrankungen geht Emilias Krankheit auf einen Gendefekt zurück. Der Stoffwechsel funktioniert wohl nicht richtg. Generell bauen sich aber im Laufe des Lebens auch die Nervenzellen im Gehirn immer weiter ab. Darauf, so erzählt Markus N., kann einen niemand vorbereiten. 

Das war also ein Gefühlschaos und der erste Reflex danach war: Ja, das müssen wir angehen. Wir sind, im Prinzip, 24 Stunden am Tag für Emilia da. Sie ist der Mittelpunkt, um die es sich im Wesentlichen alles dreht. Wir müssen alles darauf ausrichten, dass im Prinzip der Alltag, das Leben Emilias funktioniert. 

Ein Frühgeborenes im Brutkasten hält den Finger eines Erwachsenen.
Der Alltag von Betroffenen und ihrer Familien verändert sich oft radikal. Oft sind es die Eltern betroffener Kinder, die sich für die weitere Erforschung einer seltenen Krankheit einsetzen.

Von einer einnzelnen Seltenen Erkrankung sind nur wenige Menschen betroffen

In der Europäischen Union gilt eine Erkrankung als selten, wenn nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen von ihr betroffen sind. Am Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin der Uniklinik Heidelberg kommen viele solcher Krankheitsfälle zusammen. So entsteht aus dem Schicksal der einzelnen Betroffenen ein Bild der Gesamtsituation. Professor Georg Hoffmann, Direktor der Kinderklinik Heidelberg, erlebt hier jeden Tag, dass aus statistisch kleinen Zahlen der einzelnen Fälle große absolute Zahlen werden. 

Fünf bis sechs Prozent aus der Bevölkerung haben eine seltene Erkrankung und die Krankheiten sind eben sehr schwer. Also, insgesamt ist es eine ganz hohe Krankheitslast, auch für unser Gesundheitssystem und für die einzelnen Familien. 

Prof. Georg F. Hoffmann ist Direktor der Heidelberger Kinderklinik und Sprecher des Heidelberger Zentrums für seltee Erkrankungen.
Prof. Georg F. Hoffmann ist Direktor der Heidelberger Kinderklinik und Sprecher des Heidelberger Zentrums für seltene Erkrankungen.

Seltene Krankheiten sind meist genetisch bedingt

Bis zu 8.000 Seltene Krankheiten sind mittlerweile bekannt, viele seit Jahrzehnten, aber immer wieder kommen neue dazu. Rund 80 Prozent sind genetisch bedingt. Die meisten verlaufen chronisch, mit schweren Einschränkungen in der Lebensqualität und deutlich verkürzter Lebenserwartung.

So ist es auch bei Emilia. Auch eine Form der Epilepsie gehört zu Emilias Krankheitsbild. Markus N. will seiner Tochter Lebensqualität ermöglichen – aber der Tod, so sagt er, spielt immer eine Rolle. 

Seltene Krankheiten sind zu 80 Prozent genetisch bedingt.
Seltene Krankheiten sind zu 80 Prozent genetisch bedingt.

Langer Weg bis zur Diagnose

Ein Großteil der seltenen Erkrankungen sind nicht heilbar. Statt der Krankheitsursache kann man häufig ausschließlich die Symptome bekämpfen. Ein wichtiger Baustein ist die Diagnose. Doch da es nur wenige Betroffene gibt, stoßen auch Fachärzt:innen und Spezialist:innen an die Grenzen ihres Wissens. Betroffene und Angehörige leiden unter der langen Suche nach einer Diagnose:

Das ist natürlich erstmal eine sehr starke psychische Belastung gewesen. Allein schon überhaupt die Diagnose zu bekommen, das hat mehrere Jahre gedauert und hat komplett unser Leben beeinflusst. 

Es gibt nur wenige Studien

Die jeweils geringe Zahl an Betroffenen mit einer bestimmten Seltenen Erkrankung erschwert die Durchführung von Studien. Und es gibt nur wenig Expertinnen und Experten, die die Erkrankung weiter erforschen. Dies führt oft dazu, dass sich die Betroffenen mit ihrer Erkrankung allein gelassen fühlen, sagt der Kinder- und Jugendarzt Professor Georg Friedrich Hoffmann. Er ist auch Sprecher des Heidelberger Zentrums für Seltene Erkrankungen, wo genau dagegen angekämpft wird. 

Allein schon eine Diagnose, ohne dass man behandeln kann, ist eine extreme Hilfe für eine Familie und in der Diagnostik finden wir jede Woche "neue Krankheiten", weil wir die Ursachen kennenlernen. In der Therapie ist es nicht ganz so schnell, weil Arzneimittelzulassung sehr lange dauert.

Für viele Familien ist es eine schwere Last, zu wissen, dass es schon ein Medikament gibt, das in Studien getestet wird aber noch nicht zugelassen ist. Denn dem Betroffenen könnte womöglich geholfen werden, aber die Ausschlusskriterien passen nicht oder das Risiko ist zu hoch.

Großes Engagement bei Angehörigen

Schon kurz nach Emilias Geburt, erzählt Markus N., war klar, dass mit seiner Tochter irgendetwas anders ist, ihre Haltung, die Bewegung, die Art, wie sie reagierte. Heute ist Emilia 10 Jahre alt, liebt ihre Stofftiere, liebt ihre Musik und lacht viel. 

Meine Tochter ist ein sehr neugieriger Mensch. So wie sie es kann, geht sie auch gerne auf andere Menschen zu. Sie kann sich schon ausdrücken, obwohl sie nicht sprechen kann, das geht dann über Mimik. Es geht dann über Laute, die muss man mit der Zeit dann eben lernen zu interpretieren und man hört es sofort, wenn sie was erlebt oder was tut, was sie wirklich erfüllt. Also, das ist schon sehr viel Interaktion, nur halt eben nicht über gesprochen Sprache. 

Dafür zu sorgen, dass Menschen mit einer seltenen Krankheit eine möglichst hohe Lebensqualität haben, ist das oberste Ziel vieler Eltern.
Dafür zu sorgen, dass Menschen mit einer seltenen Krankheit eine möglichst hohe Lebensqualität haben, ist das oberste Ziel vieler Eltern.

Unsere Familie, so sagt Markus N., hat die Herausforderung der Krankheit angenommen, ungeachtet der medizinischen Statistik, die Emilias Erkrankung zu einer sehr seltenen macht, mit allen Problemen, die damit verbunden sind. Um Kindern wie Emilia zu helfen, ist ihr Vater selbst ist Mitglied einer Patientenorganisation, die Spenden sammelt und Forschungsprojekte anstößt.

Und das ist etwas, was mich auch wirklich erfüllt, wirklich das Gefühl zu haben, ich trage selber dazu bei, vielleicht nicht mehr Emilia zu helfen, aber anderen Kindern, die halt danach kommen. 

Streit um Fördertöpfe der EU

Die Erforschung seltener Erkrankungen wird öffentlich kaum gefördert. Es existieren ein paar Fördertöpfe der EU, um die sich aber alle seltenen Erkrankungen streiten. Die Erforschung dieser Erkrankungen ist daher in hohem Maße auf Spenden und besonders engagierte Familien angewiesen, die diese Spenden einholen.

Der Fortschritt ist entsprechend langsam und der Pool an engagierten, interessierten Forschern und Forscherinnen eher klein, die grundlegende medizinische Forschung nicht gut aufgestellt. Zu wenige Personen müssen zu viele Patienten mit den verschiedensten Erkrankungen begleiten. Kinderärzte sind oft heillos überfordert und die wahren Experten im Alltag sind meist die Eltern selbst, die die Ärzte und Ärztinnen auf dem aktuellen Stand der Forschung halten.