Polio, auch Kinderlähmung genannt, gilt dank Impfungen in vielen Ländern als praktisch ausgerottet. Dennoch wurden zuletzt Polioviren in Abwässern deutscher Städte nachgewiesen. Hier sind die Antworten auf die wichtigsten Fragen.
Was genau wurde entdeckt?
In mehreren deutschen Städten wurden im Abwasser Polioviren nachgewiesen. Ähnliche Nachweise gab es kürzlich auch in anderen europäischen Ländern wie Spanien (Barcelona) und Polen (Warschau). Dabei handelt es sich um sogenannte Schluckimpfstoff-abgeleitete Polioviren. Die Schluckimpfung enthält abgeschwächte, aber lebende Polio-Erreger. Diese können noch bis zu sechs Wochen lang ausgeschieden und weiterverbreitet werden.
Über Schmierinfektionen können sich die Impfpolioviren im Umfeld verbreiten. Werden sie nacheinander auf mehrere Menschen übertragen, die nicht gegen Polio geimpft sind, können Mutationen auftreten. Dadurch entsteht die Möglichkeit, dass sich schrittweise wieder gefährliche Eigenschaften des ursprünglichen Poliovirus entwickeln.
Polioviren in Klärwasser in Mainz entdeckt
Aus diesem Grund gibt es in Deutschland bereits seit 1998 keinen Polio-Schluckimpfstoff mehr. Stattdessen wird ein inaktivierter Impfstoff verwendet, der in die Muskeln gespritzt wird. Diese sogenannten Totimpfstoffe enthalten Erreger, die durch verschiedene Verfahren abgetötet oder unschädlich gemacht wurden. Da diese Erreger also nicht mehr aktiv sind, können sie keine Krankheit auslösen, während das Immunsystem trotzdem dazu angeregt wird Antikörper zu bilden.
Müssen wir uns Sorgen machen?
Nein, denn Polio ist eine meldepflichtige Krankheit und bisher wurden keine Erkrankungen gemeldet. Die nachgewiesenen Viren stammen aus dem als Frühwarnsystem eingesetzten Abwassermonitoring.
Aus der Vergangenheit ist bekannt, dass die meisten mutierten Impfviren nach einiger Zeit wieder von alleine verschwunden sind. Denn in Deutschland gibt es eine Polio-Impfrate von über 90 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Polio-Erkrankungen ist sehr gering.
Wenn diese mutierten Viren jedoch länger zirkulieren, ist es nach Einschätzung des RKI möglich, dass vereinzelt Erkrankungen auftreten. Betroffen wären dann vor allem nicht oder nicht vollständig geimpfte Personen.
Wie wird Kinderlähmung übertragen und welche Symptome hat eine Polio-Erkrankung?
Das Poliovirus wird hauptsächlich fäkal-oral übertragen, als Schmierinfektion durch ungewaschene Hände oder als Tröpfcheninfektion. Schlechte hygienische Verhältnisse begünstigen die Ausbreitung von Poliovirus-Infektionen.
In den allermeisten Fällen verläuft die Krankheit ohne Symptome. Bei vier bis acht Prozent der Infizierten treten leichte Beschwerden auf wie Fieber, Schnupfen und Abgeschlagenheit. Ist das Zentralnervensystem von der Infektion betroffen, entwickeln sich Lähmungserscheinungen an Armen, Beinen und der Atmung.
Gilt die Kinderlähmung in Deutschland als ausgerottet?
Ja, seit den 50er Jahren, als der Impfstoff breit eingeführt wurde. In Deutschland empfiehlt die Ständige Impfkommission eine Grundimmunisierung von Kleinkindern. In der Regel wird sie mit einem Kombinationsimpfstoff durchgeführt, der auch vor Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten, Hib und Hepatitis B schützt. Danach wird eine Auffrischungsimpfung empfohlen. Eine hohe Impfquote kann die Ausbreitung des Virus und somit größere Ausbrüche verhindern.
Weltweit ist Polio noch nicht völlig ausgerottet. Deshalb raten Medizinerinnen und Mediziner, dass alle Menschen in Deutschland ihren Polio-Impfschutz überprüfen. Insgesamt sollte man sich mindestens vier Mal in seinem Leben gegen Polio impfen lassen. So ist man sowohl vor "wilden" Polioviren, als auch vor den im Abwasser gefundenen Schluckimpfungs-abgeleiteten Viren sicher.
Wieso wurde Polio im Abwasser untersucht?
Polio wird im Rahmen eines Forschungsprojektes seit 2020 in sieben Städten (München, Bonn, Köln, Hamburg, Dresden, Düsseldorf und Mainz) im Abwasser untersucht. Der Nachweis der Viren ist zeit- und kostenaufwendig, denn um die Viren nachweisen zu können, müssen Zellkulturen angelegt und vermehrt werden.
Nach Fund in mehreren deutschen Städten Baden-Württemberg will Abwasser auf Polio-Erreger prüfen
In mehreren deutschen Städten sind Polioviren im Abwasser aufgetaucht. Jetzt will auch Baden-Württemberg auf diesen Fund reagieren.
Das RKI ist überrascht, dass so viele unterschiedliche Mutationen des impfstoffabgeleiteten Poliovirus gefunden wurden und dass sie an allen sieben Standorten des Forschungsprojektes nachgewiesen werden konnten. Das sei erstmalig, sagt die Pressesprecherin des RKI. Bisher gab es immer nur einzelne Vorkommnisse an einem Standort.
Übrigens hat Baden-Württemberg, das nicht in dem Forschungsprojekt vertreten ist, nun auch veranlasst, dass in einer Kläranlage das Abwasser auf Polioviren geprüft wird.
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