Acht bis zehn Millionen Menschen in Deutschland leiden unter Migräne. Was löst Attacken aus? Wen trifft Migräne? Und welche neuen Behandlungsansätze gibt es?
Die Kopfschmerzen sind so stark, dass man sich übergeben muss, dass man nur noch in einem abgedunkelten Raum liegen will und wartet, dass hoffentlich doch noch eine Schmerztablette wirkt, oder bis die Schmerzen endlich wieder nachlassen. Alles, was man vielleicht gerade noch vorhatte, fällt flach. Arbeiten ist auch oft unmöglich. Migräne kann einen wirklich komplett außer Gefecht setzen. SWR2 Impuls sprach anlässlich des Deutschen Kopfschmerztages mit Tim Jürgens, Präsident der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft.
Was sind die Kriterien für eine Migräne im Gegensatz zu anderen Kopfschmerzen?
Tim Jürgens: Migräne ist typischerweise eine Kopfschmerzerkrankung, die ein zyklisches Auftreten hat. Das heißt, bei den allermeisten Patienten kommt sie, bleibt einen halben Tag bis drei Tage. Das ist die übliche Dauer und sie verschwindet dann wieder, um vielleicht eine Woche später, zwei Wochen später wieder aufzutreten. Das heißt, die meisten Migränepatienten haben ein bis zwei Attacken im Monat. Das Spektrum nach oben hin ist offen, bis hin zu jedem Tag. Wobei das dann nur wenige Patienten betrifft.
Welche Symptome zeigen sich bei einer Migräneattacke abgesehen von Kopfschmerzen?
Tim Jürgens: Die Kopfschmerzen sind so ein bisschen die Spitze des Eisberges. Da haben wir uns lange drauf gestürzt, Und auch klinische Studien haben sich darauf konzentriert. Heute wissen wir aber, dass die Migräne ein ganz vielfältiges Bild hat, was die Diagnose auch oft gar nicht so einfach macht.
Es ist oft so, dass die Ausprägung von Migräne im Detail ganz unterschiedlich ist. Ganz typisch ist zum Beispiel die Übelkeit, das Erbrechen. Patienten ziehen sich zurück, legen sich vielleicht einen Lappen über den Kopf, einen Eimer neben das Bett. Dazu kommt dann eine Überempfindlichkeit gegenüber äußeren Sinneseindrücken, zum Beispiel eine ausgeprägte Lichtempfindlichkeit oder eine Überempfindlichkeit gegenüber Lärm. Laute Geräusche werden als sehr unangenehm empfunden und verstärken auch die Kopfschmerzen. Und, das sehen wir heute auch: eine Überempfindlichkeit gegenüber Gerüchen, die auch sehr spezifisch für die Migräne ist.
Können laute Geräusche oder bestimmte Gerüche eine Migräneattacke auslösen? Oder ist das nicht der Auslöser an sich?
Tim Jürgens: Das ist eine ziemlich gute Frage, die man schwierig beantworten kann. Wir wissen zum einen heute, dass es neben diesen Begleitsymptomen der Migräne auch Vorboten der Migräne gibt. Das sind zum Beispiel Dinge, die Patienten oft gar nicht selber gut bemerken, wie Heißhunger, dunkle Augen, Schlafprobleme, Durchfall, Harndrang.
Dazu gehören aber auch solche Symptome wie Übelkeit, vermehrte Lichtempfindlichkeit, Lärmempfindlichkeit und auch Empfindlichkeit gegenüber Gerüchen. Bei vielen Patienten ist es so, dass die Migräneattacke dann zu diesem Zeitpunkt – der Kopfschmerz ist zu Beginn dann noch nicht dabei, der folgt dann erst – noch nicht als eigentliche Migräneattacke erlebt wird, sondern eben nur als Vorbote.
Aus bildgebenden Studien wissen wir aber, dass da die typischen Strukturen schon genau dem entsprechen, was wir aus der Migräneattacke kennen.
Das ist also der eine Teil der Patienten, die haben bereits eine Migräneattacke, sind im Rahmen der Migräneattacke vermehrt lärmempfindlich. Sie setzen sich dann beispielsweise einem Lärmreiz aus. Und der Kopfschmerz beginnt, weil die Migräneattacke schon angelaufen ist. Und dann wird gedacht: na ja, es kommt vom Lärm, aber es war eigentlich schon Ausdruck einer begonnenen Migräneattacke.
Und dann gibt es eine kleinere Gruppe von Patienten, bei denen auch diese Sinneseindrücke tatsächlich eine Migräneattacke auslösen können. Helles Flackerlicht kann zum Beispiel bei Migränepatienten durchaus auch mal eine Attacke auslösen. Unangenehme Gerüche können eine Attacke auslösen, genau wie starker Lärm das kann. Da muss man dann immer genau abwägen, ist es im Einzelfall tatsächlich der Ausdruck einer bereits begonnenen Attacke? Oder wird die Migräneattacke tatsächlich durch äußere Einflüsse ausgelöst?
Gibt es bestimmte Gerüche, auf manche Patienten besonders empfindlich reagieren?
Tim Jürgens: Ja, das ist auch schön, dass die Kollegen das mal so genau untersucht haben. Denn was mir die Patienten immer berichtet haben, findet sich dort genau wieder. Süßes, blümerantes Parfüm wird von ganz vielen Patienten als unangenehm empfunden, Gerüche wie beispielsweise von Duftbäumchen. Dann Essensgerüche, Zigarettenrauch, verbrauchte Raumluft, das sind so die Dinge, die neben Lack und Benzin da auch am häufigsten genannt werden.
Gibt es neue Therapieansätze, die bei Migräne helfen?
Tim Jürgens: Ja, im Bereich der Akuttherapie können wir herkömmliche Schmerzmittel anwenden; die wirken bei relativ vielen Patienten, aber oft eher bei leichteren Attacken.
Bei stärkeren Attacken müssen wir dann auf die sogenannten Triptane zurückgreifen, die seit Mitte der 90er-Jahre dafür auf dem Markt sind und auch mittlerweile unkompliziert verschrieben werden können. Wir sehen aber auch Patienten, bei denen das alles nicht gut hilft, oder die Kontraindikationen gegenüber einer Verordnung von diesen Triptanen haben.
Triptane haben eine gefäßverengende Wirkung und sind zum Beispiel bei Patienten, die einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall hatten, also mit verengten Schlagadern zu tun hatten, kontraindiziert. Für diese Patienten gibt es in Zukunft einen Bedarf, neue Medikamente einsetzen zu können.
Dieses Jahr sind zwei Präparate zugelassen worden aus jeweils zwei neuen Gruppen von Medikamenten, die sogenannten Ditane und die Gepante. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie offenbar auch bei Patienten, die gefäßverengende Erkrankungen haben – wie Schlaganfall, Herzinfarkt, Angina Pectoris – unkompliziert eingesetzt werden können und auch bei denjenigen wirken, bei denen die herkömmlichen Migräne-Therapien nicht wirken.
Insofern ist das ein großer Pluspunkt, den wir haben, dass wir in Zukunft hoffentlich auch Medikamente für diejenigen haben, die auf das, was wir bisher zur Verfügung hatten, nicht angesprochen haben.
Liegt der Schwerpunkt bei der Therapie tatsächlich noch auf der medikamentösen Behandlung? Oder gibt es auch andere Ansätze?
Tim Jürgens: Insbesondere bei der Akut-Therapie ist die medikamentöse Behandlung sicherlich einer der Schwerpunkte. Bei der vorbeugenden Therapie gab es in den letzten Jahren auch etliche Neuerungen. Da haben wir bisher fünf, sechs Medikamente gehabt, die ganz gut geholfen haben, zu denen es auch ganz gute Daten gab. Mit denen konnten wir eben bei sehr häufigen Migräneattacken – man sagt so etwa drei bis vier Migräneattacken pro Monat – behandeln und die Häufigkeit senken.
Und da muss man dann noch immer abwägen: Wenn die Akuttherapie zu häufig eingenommen wird, an neun bis zehn Tagen im Monat, besteht die Gefahr, dass der Kopfschmerz noch zunehmen kann. Spätestens dann, wenn man sehr viele Schmerzmittel einnimmt, muss man über eine Prophylaxe nachdenken. Und das sind eben in der Regel erst einmal medikamentöse Verfahren.
Wir empfehlen aber auch grundsätzlich allen Patienten ausreichend Bewegung. Das wissen wir seit vielen Jahren, dass Bewegung gut ist. Wir empfehlen zweimal pro Woche für 30 Minuten sogenannten aeroben Ausdauersport, bei dem man tatsächlich 30 Minuten in eine durchgehende Anstrengung kommt, wie Joggen, Rennradfahren, auf dem Rudergerät sitzen.
Im Fitnessstudio gibt es mittlerweile für jede Laune und für jeden Wunsch entsprechende Angebote, mit denen man dann tatsächlich sich anstrengen kann und nach einer halben Stunde dann das Gefühl hat, dass man wirklich auch geschwitzt hat, eine dauerhafte, konstante Anstrengung hinter sich gebracht hat. Das zeigen die Daten tatsächlich, dass das sehr gut wirksam ist, und das ist auch das Verfahren, was die Patienten dann über die Zeit eigentlich am anhaltendsten anwenden.
Migräne trifft ja Frauen häufiger als Männer. Weiß man, warum das so ist?
Tim Jürgens: Frauen haben tatsächlich einen anderen Hormonhaushalt als Männer. Das haben wir auch gut zeigen können. Da schwanken die Hormone Östrogen und Gestagen. Was man zeigen kann, ist, dass die Migräne-Häufigkeit dieser Östrogenkurve folgt. Also immer dann, wenn das Östrogen abfällt, steigt die Häufigkeit von Migräneattacken an. Das hat sicherlich einen ganz wichtigen Einfluss darauf, dass Frauen doppelt bis dreimal so häufig Migräne haben, je nach Altersgruppe.
Wer ist besonders anfällig für Migräne? Gibt es dafür gewisse Indikatoren?
Tim Jürgens: Auf jeden Fall dann, wenn wir in der Familie weitere Betroffene mit Migräne haben. Wenn beispielsweise beide Eltern Migräne haben, dann haben die Kinder ein sehr hohes Risiko, dass sie auch Migräne bekommen. Wenn Geschwister betroffen sind, ist das sicherlich der relevanteste Punkt.
Früher hat man auch einmal probiert, Persönlichkeitsprofile herauszuarbeiten von jemandem, der eine Migräne bekommt. Da ist man eigentlich daran gescheitert. Es gibt so Charakterzüge, die man Migränikern unterstellt, wie Perfektionismus, dass man auch eben ein bisschen rigide ist, also dass man einen getroffenen Weg dann nicht mehr wechselt, sondern den konsequent bis zum Ende geht. Aber das hat sich in großen Studien nicht reproduzieren lassen. Ich denke, der wichtigste Risikofaktor ist eine positive Familienanamnese für Migräne.
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