Menschen stellen Werkzeuge spontan her: Ein Tübinger Experiment will die Annahme widerlegt haben, dass Steinwerkzeuge vor 2,6 Millionen Jahren den Beginn der menschlichen Kultur darstellen.
Steinwerkzeuge aus archäologischen Ausgrabungen ‒ einige bis zu 2,6 Millionen Jahre alt – gelten bislang für viele als Beleg für den Beginn der menschlichen Kultur in der Evolution. Aber zeigen sie tatsächlich, dass unsere Vorfahren bereits zu diesem Zeitpunkt geistig und kulturell zu Menschen wurden?
Dr. Claudio Tennie und Dr. William Snyder aus der Abteilung "Urgeschichte und Quartärökologie" der Universität Tübingen kommen zu einem anderen Schluss: Wie ihre neue Studie zeigte, können die frühesten Techniken zur Herstellung von Steinwerkzeugen auch ohne kulturelle Weitergabe spontan neu erfunden werden. Sie seien also kein Beweis für den Beginn der menschlichen Kultur, die möglicherweise erst viel später begonnen habe, urteilen die Forschenden. SWR Redakteur Ralf Caspary hat mit dem kognitiven Archäologen Dr. Tennie gesprochen.
Versuchsaufbau
Ralf Caspary, SWR2: Was mussten die Studienteilnehmenden in dem Experiment genau machen?
Dr. Claudio Tennie, kognitiver Archäologe und Forschungsgruppenleiter an der Universität in Tübingen: Die 28 Teilnehmenden mussten Steinwerkzeuge herstellen. Zur Motivation gab es Geld, das wir in einer Box versteckt hatten. Um an das Geld zu gelangen, brauchte man Steinwerkzeuge. Den Teilnehmenden wurde aber nicht gesagt, wie man zu dieser Lösung kommen kann. Sie mussten die Steinwerkzeuge selbst herstellen.
Das notwendige Material – eine bemalte Glashalbkugel, ein mittelgroßer Flusskiesel und ein großer Granitblock – wurde den Teilnehmenden bereitgestellt. Dass es um Steinwerkzeuge geht, wurde ihnen aber nicht gesagt. Das heißt, den Probandinnen und Probanden wurde kein Steinwerkzeug gezeigt, und vor allen Dingen wurde ihnen nicht gezeigt, wie man Steinwerkzeuge herstellt.
Teilnehmende stellen spontan Steinwerkzeug her
Ralf Caspary: Was haben die Teilnehmenden gemacht? Haben sie fleißig Steinwerkzeuge gebaut?
Dr. Claudio Tennie: Genau. Der wichtige Unterschied ist: Bei den Studien, die vor unserer Studie gemacht worden sind, wurde den Teilnehmenden im Vorhinein gezeigt, wie man Steinwerkzeuge herstellt. Die Grundannahme, die aber nie überprüft wurde, war immer, dass Menschen das nicht spontan können.
Diese Annahme haben wir jetzt überprüft: Wir haben den Probanden nichts vorgezeigt oder vorgemacht. Zum Ausgleich gab es ein bisschen mehr Zeit als in den anderen Studien. Die Probandinnen und Probanden saßen also vor ihrer Aufgabe und nach einer Weile – das hat auch mal eine Stunde gedauert – haben sie dann doch spontan Steinwerkzeuge herstellt.
Steinwerkzeuge sind kein Beweis für menschliche Kultur
Ralf Caspary: Was sagt denn dieses Ergebnis jetzt für Sie aus bezüglich der kulturellen Entwicklung?
Dr. Claudio Tennie: Wir sagen da ganz klar: Die Tatsache, dass man diese Herstellungstechniken auch spontan neu erfinden kann bedeutet, dass wir annehmen müssen, dass das damals – vor etwa mal 2,5 Millionen Jahren – auch der Fall hat sein können. Und das würde dann bedeuten, dass diese Herstellungstechniken eben nicht dieser wichtige Hinweis darauf war, dass wir es damals schon mit einer menschenähnlichen Kultur zu tun hatten.
Nehmen wir zum Beispiel den Menschenaffen: Man weiß, dass alles, was die Menschenaffen machen, auch aus dem Stand heraus von anderen Menschenaffen erfunden werden kann. Sie müssen nicht voneinander abgucken.
Überträgt man das nun auf die Beobachtungen aus dem Experiment, dann sieht man, dass wir bei den Urmenschen ein neues Modell anwenden können – nämlich das Modell der Menschenaffen. Wir müssen also davon ausgehen, dass die frühesten Steinwerkzeuge bei unseren weit entfernten Vorfahren eher von einer Menschenaffenkultur zeugen als von einer menschlichen Kultur.
Eine Million Jahre ohne technischen Fortschritt
Ralf Caspary: Was wäre denn, wenn ich sagen würde, dass irgendein ein Urmensch mal durch Zufall ein Steinwerkzeug hergestellt hat?
Dr. Claudio Tennie: Ja, das kann passieren. Scharfe Steine können auch so mal entstehen. Das passiert dann aber wahrscheinlich eher, in seltenen Fällen. Aber jetzt ist eben die Frage können das dann nicht die anderen nachgemacht haben?
Damm muss man annehmen, dass beim Nachahmen auch Fehler entstehen können. Und diese Fehler addieren sich. Dementsprechend würde man unter dieser Annahme erwarten, dass die Kultur sich immer wieder ändert, wie heute zum Beispiel bei der Sprache. So etwas verändert sich im Laufe der Zeit, wenn es wirklich kulturell weitergegeben wird.
Aber da haben wir gefunden, dass die Steinwerkzeuge, die es seit circa 2,6 Millionen Jahren gibt, für eine Million Jahre unverändert gewesen sind. Das kann man mit einem Modell wie der menschlichen Kultur nicht nachvollziehen.
Kultur der Menschenaffen: Auch Orang-Utans können Steinwerkzeug herstellen
Ralf Caspary: Wie aussagekräftig ist ein solches Experiment mit heutigen Menschen, kann man das übertragen?
Dr. Claudio Tennie: Da haben wir mehrere Stufen an Kontrolle. Die erste Kontrolle war, dass wir die Teilnehmenden im Nachhinein gefragt haben, ob die Partizipanten schon Erfahrungen mit dem Steinschlagen hatten. Alle die, die schon Erfahrungen hatten, wurden aus der Studie herausgenommen.
Der wichtigere Schritt ist, dass wir die gleiche Art von Versuchen in den letzten Jahren mit Menschenaffen gemacht haben. Diese Menschenaffen haben eben nicht diese Art von Kultur wie wir Menschen. Wir haben gefunden, dass Orang-Utans auch in der Lage sind, Steinabschlagtechniken neu zu erfinden.
Alle Ergebnisse zusammen – die eine Million Jahre unveränderteTechniken und die spontane Werzeugherstellung bei Menschen und bei Orang-Utans – lassen nur noch eine Hypothese übrig: Wir haben es doch eher mit einer Menschenaffenkultur zu tun als mit einer modernen menschlichen Kultur.
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Hans Blumenberg, der im Juli 1920 geboren wurde, ist einer der einflussreichsten deutschen Philosophen der Nachkriegszeit, sein Denken hat eine ungebrochene Aktualität. Er kritisierte immer wieder die Reduktion des Menschen auf naturwissenschaftliche oder ökonomische Konzepte. Seine Anthropologie bestimmt den Menschen als ein Wesen, das sich mittels Symbolen, Sprache und Metaphern eine Welt schafft, in der das Vage, Undeutliche, das gerade Erahnbare und das Abenteuer Alternativen bieten.