Mit einer Gehirn-Rückenmarks-Schnittstelle ist es Forschenden gelungen, einem bislang gelähmten Patienten zumindest etwas Mobilität zu ermöglichen. Ist das ein medizinischer Durchbruch für Querschnittgelähmte?
Ungefähr 140.000 Menschen in Deutschland leben mit einer Querschnittslähmung. Heilbar sind diese Schädigungen des Rückenmarks nicht – oder zumindest noch nicht. Bereits jetzt ist es möglich, Nervenzellen unterhalb der Verletzung im Rückenmark zu stimulieren und so zum Beispiel das Bein auf Knopfdruck zu einer Bewegung anzuregen.
Implantate im Gehirn können "Gedanken lesen" und führen Gehimpuls aus
Eine Forschungsgruppe aus Lausanne hat das jetzt bei einem 40-jährigen Querschnittsgelähmten weitergesponnen: Ein Implantat im Gehirn entschlüsselt die Nervenimpulse – liest praktisch seine Gedanken, ob er einen Schritt gehen will – und leitet diese Information dann an ein Implantat im Rückenmark weiter, wo der Schritt ausgelöst wird. Ein Brain-Spine-Interface, Gehirn-Rückenmarks-Schnittstelle, nennen die Forschenden das und konnten so dem Patienten zumindest ein bisschen Mobilität ermöglichen.
Erster Patient in den Niederlanden kann nach Jahren im Rollstuhl wieder selbstgesteuert gehen
Gert-Jan Oskam aus den Niederlanden ist seit fast zwölf Jahren querschnittsgelähmt. Bei einem Verkehrsunfall erlitt er eine sogenannte zervikale Fraktur – er brach sich den Hals. Er verlor die Kontrolle über seine Beine und zum Teil auch über seinen Rumpf und seine Arme.
Oskam bekam die zwei Implantate – eines unterhalb der Verletzung in der Wirbelsäule am Rückenmark und ein zweites unter der Schädeldecke auf dem Gehirn. Es ist ein Vorteil dieser Methode, dass das Implantat nicht ins Gehirn eingesetzt werden muss. So ist die nötige Operation einfacher für die Chirurgen, geht mit einem geringeren Risiko einher und das Implantat ist wahrscheinlich auch länger funktionsfähig, bevor es ausgetauscht werden muss.
Nach nur wenigen Minuten Training konnte das Implantat mithilfe von künstlicher Intelligenz Nervenimpulse aus Oskams Gehirns interpretieren und über eine drahtlose Verbindung zum zweiten Implantat Bewegungen in seinem Bein auslösen. So konnte er – zum ersten Mal seit seinem Unfall – nur durch einen Gedanken sein Bein bewegen.
Auf diese Art – damit meint Oskam, dass er bereits durch ein früheres Implantat in seiner Wirbelsäule wieder gehen konnte, allerdings konnte er dieses Implantat nicht mit seinen Gedanken ansteuern. Es musste von außerhalb des Körpers aktiviert werden und führte dann einen vorprogrammierten Schritt aus. Das stresste ihn, sagt Oskam, denn er musste dem Rhythmus folgen, ansonsten funktionierte der Schritt nicht richtig und er musste anhalten.
Bisher ist der Niederländer Gert-Jan Oskam die einzige Person, die das System getestet hat
Bis jetzt ist das System allerdings erst an einer Person getestet worden. Damit ist zwar bewiesen, dass das Konzept grundsätzlich funktionieren kann, doch bisher nur unter den bestimmten Voraussetzungen, die der Proband Gert-Jan Oskam mitbringt. Zum Beispiel ist seine Verletzung des Rückenmarks nicht komplett, einige Nervenfasern können noch Impulse weiterleiten. Außerdem hat Oskam bereits andere experimentelle Systeme ausprobiert, die zeigten, dass eine externe Stimulation der Nerven bei ihm funktioniert.
Ob das bei allen Querschnittsgelähmten geht, ist noch nicht ganz klar. Und Oskam ist außer der Querschnittslähmung sehr gesund. Er hat keine Erkrankungen, die das System beeinflussen könnten.
Forschende sind optimistisch, dass das System auch bei anderen Querschnittsgelähmten funktionieren kann
Doch die Forschenden sind sich sicher, auch anderen Querschnittsgelähmten – auch solchen, bei denen das Rückenmark komplett durchtrennt ist – kann mit der Schnittstelle zwischen Gehirn und Rückenmark geholfen werden.
Gert-Jan Oskam hat das System mehr als ein Jahrzehnt nach seinem Unfall implantiert bekommen und konnte innerhalb weniger Minuten wieder bewusst Bewegungen in seiner Hüfte und seinen Beinen auslösen. Würde die Methode so früh wie möglich nach der Verletzung angewendet, sagen die Forschenden, sei das Potential noch viel größer, viel mehr Kontrolle zurückzuerlangen.
Und auch, wenn sich herausstellen sollte, dass das System nur unter bestimmten Voraussetzungen funktioniert, ist es ein großer Schritt hin zur Heilung einer bisher unheilbaren Krankheit. Und für Menschen wie Gert-Jan Oskam, bedeutet das eine verlorengeglaubte Freiheit zurückzuerlangen.