Die Geburtenrate in Deutschland ist deutlich zurückgegangen. Über die Gründe haben wir mit Martin Bujard vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung gesprochen.
Stefan Troendle: Kinder kriegen heute kein Zufall, sondern eine bewusste Entscheidung. Stimmt das?
Martin Bujard: Ist auf jeden Fall eine bewusste Entscheidung heutzutage. Also wer sich für Kinder entscheidet, meistens in einer Partnerschaft, müssen beide, wirklich auch Kinder wollen. Wenn auch nur einer von beiden es nicht möchte, dann wird verhütet, und dann werden keine Kinder geboren.
Stefan Troendle: Warum wollen denn deutsche Paare aktuell keine Kinder? Woran liegt das?
Martin Bujard: Sie wollen schon Kinder. Also wir erfragen mit dem Familienpanel FReDA den Kinderwunsch. Und der Kinderwunsch liegt im Durchschnitt bei den jungen Menschen zwischen 18 und 29 Jahren bei 1,9 Kindern. Die meisten möchten Kinder. Die meisten möchten eigentlich auch zwei Kinder.
Der Kinderwunsch wird aufgeschoben
Stefan Troendle: Aber aktuell gibt es nur 1,36 Kinder, wenn man jetzt die Statistik nimmt. Also woran liegt das?
Martin Bujard: Das liegt daran, dass viele den Kinderwunsch aufschieben. Die Menschen möchten Kinder haben, aber möchten, dass alle Rahmenbedingungen passen. Dazu ist erstmal ein guter Berufseinstieg notwendig, eine finanzielle Sicherheit. Wohnraum ist auch ein wichtiges Thema. Und wenn es dann so weit ist, dass alles passt, dann auch eine gewisse Sicherheit.
Diesen starken Rückgang, den wir in den letzten zwei Jahren haben, der hat etwas mit diesen multiplen Krisen, die wir erleben, zu tun. Das verunsichert die Menschen, und dann wird der Kinderwunsch aufgeschoben.
Cocooning-Effekt in der Corona-Pandemie
Stefan Troendle: Noch 2021 war die Geburtenrate so hoch wie seit den 1970er Jahren nicht mehr. Aber damals waren wir voll in der Corona-Pandemie, also auch eine Krise. Kamen die Kinder da wegen oder trotz Corona?
Martin Bujard: Der Anstieg, den wir hatten, den hatten wir eigentlich schon seit den 2010er-Jahren und der hat sehr viel mit dem Ausbau der Familienpolitik zu tun. Dadurch, dass Deutschland ein Kita-Angebot hatte und vom Halbtags-Schulsystem auf ein Ganztagsschulsystem umgestellt hat, war die Vereinbarkeit von Beruf und Familie viel leichter und gerade auch Akademikerinnen, die davor sehr oft kinderlos waren, haben danach mehr Kinder bekommen. Das ist der zentrale Grund, dass die Geburtenrate, die ja jahrzehntelang bei etwa 1,3 lag, dann auf 1,5 bis 1,6 wieder gestiegen ist.
Ein anderer Grund war, dass der Anteil von Frauen mit Migrationshintergrund gestiegen ist. Und in der Pandemie, ganz zu Beginn, gab ein Mini-Mini-Geburtenanstieg, der ein Cocooning-Effekt war. Das heißt, ganz zu Beginn der Krise, im Lockdown, waren viele Paare weniger unterwegs, vielleicht weniger auf Feiern und Reisen, sondern vielleicht eher im Park und hatten vielleicht auch mehr Zeit, sich darüber zu unterhalten, und manche haben gemerkt, wie wichtig Familie ist. Ich nenne das einen Cocooning-Effekt. Das ist aber ein sehr, sehr kleiner Effekt. Und der war auch kurz, und im Endeffekt hat Corona sehr stark geschlaucht.
Und als Corona dann vorbei war, ging es los mit dem Angriffskrieg Russlands in der Ukraine, also einem Krieg hier in Europa. Dann gab es die damit verbundenen ökonomischen Krisen, also Energiekrise und Inflation. Und der Klimawandel ist auch eine Krise. Das Zusammenspiel dieser Krisen ist schon recht ungewöhnlich, und das verunsichert junge Menschen, und solche Verunsicherung ist Gift für die Familienplanung.
Die Familienpolitik verunsichert Paare mit Kinderwunsch
Stefan Troendle: Jetzt läuft auch noch das Förderprogramm des Bundes für mehr Kita-Plätze im Sommer aus. Ob es weitergeht, ist noch nicht ganz klar. Aber Bundeswirtschaftsminister Lindner spricht in dem Zusammenhang sogar von Sozialleistungen. Was machen solche Nachrichten mit Paaren, die überlegen, eine Familie zu gründen?
Martin Bujard: Das verunsichert Paare auch. Dass Deutschland von einst das Schlusslicht in Europa sich in den letzten Jahrzehnten bei der Geburtenrate ins Mittelfeld bewegt hat, hat sehr viel damit zu tun, dass die Kitas ausgebaut wurden. In den letzten Jahren ist wieder eine Unsicherheit gekommen, weil einfach die Nachfrage nach Kita-Plätzen viel größer ist als das Angebot. Das heißt, viele Menschen erleben Kitas nicht als verlässlich, weil es dann doch mal ausfällt. Es gibt einen großen Fachkräftemangel.
Und insofern wäre es empfehlenswert, besonders in den Kita-Ausbau weiter zu investieren in die Qualität von Kitas. Denn wenn Menschen und Familien lernen und die Erfahrung machen, dass die Kitas verlässlich sind, dass sie nicht ausfallen, dass sie auch Ganztagsangebote sind, wenn der Bedarf da ist und dass da auch wirklich hochwertige frühkindliche Bildung angeboten wird, dann gibt das Paaren mit Kinderwunsch Sicherheit - oder dass Paare, die vielleicht schon ein Kind haben, sich für ein weiteres Kind entscheiden.
Beruf und Familie müssen vereinbarer werden
Stefan Troendle: Was muss sich in der Familienpolitik generell ändern? Wie kommen wir aus dieser Nummer wieder raus?
Martin Bujard: Die Kita-Plätze sind schon der zentrale Faktor, der letztlich auch diesen Unterschied macht. Das ist schon das Wichtigste. Elterngeld ist auch etwas, was sehr hilfreich war und was seit 2007 nicht mehr erhöht worden ist.
Und ein anderer Bereich, der hat natürlich etwas damit zu tun, wie auf dem Arbeitsmarkt die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erlebt wird. Werden Eltern bestraft dafür, wenn sie vielleicht mal temporär etwas reduziert arbeiten? Je stärker das der Fall ist, desto höher ist letztlich die Schwierigkeit für viele, einen Kinderwunsch umzusetzen. Das heißt, die meisten Mütter und Väter sowieso möchten auch erwerbstätig sein, wenn sie Eltern sind. Sie möchten aber auch Zeit haben für die Kinder in der Rushhour des Lebens. Da muss sich der Arbeitsmarkt stärker an Familien anpassen. Gegenwärtig ist es so, dass ich vor allem Familien an den Arbeitsmarkt anpassen.
Vorbild Skandinavien: Eine Kultur, die an Kindern ausgerichtet ist
Stefan Troendle: Was muss denn passieren, dass Kinder als was Positives, als was Normales gesehen werden und nicht als was, was dem Arbeitgeber potenziell wegen des Ausfalls der Mutter schadet?
Martin Bujard: Es ist schon vieles besser geworden, dadurch, dass die Kitas jetzt da sind und dass Mütter, wenn das Kind ein Jahr ist, sehr oft schon auf dem Arbeitsmarkt zurückkommen. Da hat sich schon vieles verbessert, aber es ist noch sehr viel Luft nach oben. Wenn man nach Skandinavien schaut, da ist es so, dass das Verständnis, dass man zu gewissen Zeiten, beispielsweise zu Abendessenzeiten, zu Hause ist mit den Kindern, viel verbreiteter.
Man kann es auf den Punkt bringen: In Deutschland macht oft in vielen Branchen derjenige Karriere oder diejenige, der oder die abends um sieben oder um acht Uhr noch im Büro sind. In Dänemark oder Schweden werden diese Leute ein bisschen skeptisch betrachtet so von wegen: "Ach, hat der keine Familie? Hat der nichts Besseres zu tun abends? Das ist schon bisschen was Kulturelles, was da eine Rolle spielt.
Aber man muss auch sagen, dass in Skandinavien die Geburtenraten auch gesunken sind. In den letzten paar Jahren ist das ein europaweites Phänomen. Und die Schweden und Dänen haben Geburtenraten von 1,4. Das heißt, wir müssen auf Europa schauen, und da ist der große Hebel, dass es einfach mehr Menschen geben muss, die sich für das dritte Kind entscheiden.
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