Die Klinikeinweisungen wegen Magersucht und Binge-Eating sind stark angestiegen. Besonders häufig leiden junge Frauen und Männer zwischen 18 und 25 an Essstörungen. In Tübingen tauschen sich Fachleute über Therapien aus.
Körper und Seele hängen zusammen: Wer psychisch leidet, wird irgendwann auch körperlich krank. Damit beschäftigt sich in der Medizin die sogenannte Psychosomatik. Ab dem 19. September 2024 treffen sich Fachleute auf dem Gebiet beim Weltkongress für Psychosomatik in Tübingen. Ein zentrales Thema sind Essstörungen.
Essstörungen so verbreitet wie Suchterkrankungen
Essstörungen nehmen in den Industrieländern immer weiter zu. Die Pandemie hat wie ein Brandbeschleuniger gewirkt. Nach dem Ende der Covid-Pandemie wird es besser, so die Hoffnung der Kliniken. Doch sie merkten, dass es viele schwer erkrankte junge Menschen mit Essstörungen gibt, "die auch nach Ende der Covid-Pandemie mit besorgniserregenden Formen der Essstörungen zu uns kommen", berichtet Kongresspräsident Professor Stephan Zipfel.
Wie viele Betroffene es gibt, ist schwer zu sagen. Die steigenden Klinikeinweisungen sind nur die Spitze des Eisbergs, die Dunkelziffer ist hoch. Weltweit könnten aktuellen Studien zufolge bis zu acht Prozent der jungen Frauen und etwa zwei Prozent der jungen Männer zwischen 18 und 25 Jahren an einer Essstörung leiden.
"Weltweit haben die Essstörungen unterdessen das Level der Suchterkrankungen erreicht", sagt Stephan Zipfel. Das gelte nicht nur für Magersucht, sondern auch für Übergewicht, insbesondere für die "Binge-Eating-Störung".
Beim Binge-Eating kommt es zu Essanfällen, bei denen Betroffene gewaltige Mengen Nahrung herunterschlingen und so immer mehr zunehmen. Während Magersucht vor allem Mädchen in der Pubertät betrifft, tritt Binge-Eating eher bei jungen Erwachsenen auf, ein Drittel der Patienten ist männlich.
Therapieplätze für Essgestörte sind rar
Warum aber werden alle Formen von Essstörungen seit Jahren immer häufiger? Im Fachblatt Lancet Psychiatry vermuten die Autoren gleich mehrere Ursachen: unregulierte soziale Medien, Kriege, Klimawandel und Einsamkeit.
Das Tübinger Kompetenzzentrum für Essstörungen (KOMET) wird wie viele ähnliche Einrichtungen geradezu überrannt: "Hier haben wir jetzt über die letzten Jahre gemerkt, dass unsere Kapazitäten tatsächlich nicht mehr ausreichen", sagt Prof. Stephan Zipfel.
Das KOMET hat deshalb beim Land die Ausweitung beantragt. Denn für die Betroffenen und die Familien sei es besonders wichtig, dass zeitnah ein Angebot gemacht werden kann.
Neue Therapie: Virtual-Reality-Brille gegen Magersucht
Beim Weltkongress für Psychosomatische Medizin geht es auch um neue Therapieformen - zum Beispiel eine Virtual-Reality-Brille gegen Magersucht. Bei den Patientinnen ist die Körperwahrnehmung gestört: Sie müssen lernen, sich selbst auch mit höherem Gewicht zu akzeptieren. Mit der Virtual Reality-Brille bekommen sie Bilder von sich selbst mit normalem Gewicht gezeigt - dreidimensional und lebensecht.
Die Psychotherapeutin Dr. Simone Behrens hat den neuen Ansatz mitentwickelt. Die Virtual-Reality-Brille sei aus einem Zufallsbefund bei früheren Studien zur Körperwahrnehmung von Patientinnen mit Magersucht hervorgegangen. Es habe sich gezeigt, dass es für die Patientinnen "wahnsinnig aufregend war, sich anzuschauen" und "dass es ihnen aber hinterher irgendwie besser ging", berichtet Simone Behrens. Dadurch sei bei ihr der Wunsch gereift, dies zum Wohle der Patientinnen nutzbar zu machen.
Eine der Patientinnen ist Christina. Sie hat sich im Rahmen einer Studie viermal für eine halbe Stunde die Spezialbrille aufgesetzt und sich selbst in normal schlank gesehen - mit der Zeit ließ ihre Anspannung nach. Bei jeder zweiten Teilnehmerin hat das geklappt.
Auf Essstörung ansprechen ohne zu bewerten
Wer einen Therapieplatz wegen Magersucht oder einer anderen Essstörung bekommen hat, hat eine Chance auf Heilung. Dazu braucht es aber ein aufmerksames Umfeld. Eltern, Freunde und Lehrkräfte sollten magersüchtige Mädchen ansprechen - jedoch nicht mahnend oder vorwurfsvoll, sondern in der Ich-Form, rät Stephan Zipfel.
Man könne zum Beispiel sagen: "Mir fällt auf, dass du sehr an Gewicht verloren hast und in meinem Eindruck auch nicht mehr gesund aussiehst. Und ich mache mir Sorgen darüber. Und deswegen möchte ich mich gerne für Dich einsetzen und fragen, wie es Dir geht." Diese Ich-Botschaften seien eine Möglichkeit des Dialogs und einer Beziehung - und keine Bewertung.
Psychologie Magersucht – Therapien gegen die Essstörung
Zwanghaftes Kalorienzählen, exzessiv Sport treiben, mehrmals täglich auf die Waage: Magersucht, auch Anorexia nervosa, betrifft etwa 1 Prozent aller Mädchen und Frauen. Doch auch immer mehr Männer sind betroffen. Noch immer endet eine Essstörung in vielen Fällen tödlich, da eine Therapie schwierig ist und es häufig zu Rückfällen kommt. Lange dachte man, Ursache und Therapie von Magersucht liegen in der Familie. Aktuelle Erkenntnisse zeigen jedoch: Auch Stoffwechsel und Genetik spielen eine Rolle.
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