Eine neue Studie prognostiziert die Verdoppelung der Diabetes Typ 1-Fälle bis 2040. Die DDG mahnt, es müsse deutlich mehr in die Diabetesversorgung und -prävention investiert werden.
Diabetes mellitus ist weltweit auf dem Vormarsch. Eine aktuelle Lancet-Studie prognostiziert nun, dass sich die Erkrankungszahlen für Diabetes Typ 1 bis 2040 von etwa 8,4 Millionen auf bis zu 17,4 Millionen verdoppeln könnten.
Ralf Caspary im Gespräch mit Prof. Andreas Neu der Uniklinik Tübingen und Vizepräsident der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG).
Wie schätzen Sie die Zahlen der Studie ein?
Prof. Dr. Neu: Die aktuelle australische Studie belegt im Grunde das, was wir seit 30 Jahren auch hierzulande beobachten. In Baden-Württemberg genauso wie in den anderen Bundesländern steigt die Neuerkrankungsrate des Typ 1 Diabetes kontinuierlich an. Wir beobachten eine mittlere Anstiegssrate von 3 bis 4 Prozent. Das entspricht einer Verdoppelung innerhalb von 20 Jahren. Und genau das prognostiziert jetzt die australische Studie: Eine weltweite Verdopplung der Typ 1 Diabetes-Fälle bis 2040.
Können Sie einschätzen, wie seriös die Studie ist?
Prof. Dr. Neu: Die Studie ist von renommierten Wissenschaftlern gemacht. Die Studie ist hochrangig publiziert. Die Datenbasis der Studie ist außerordentlich breit, sodass man diese Studie als sehr seriös und ernsthaft erachten sollte.
Weshalb ist Diabetes Typ 1 auf dem Vormarsch und nicht Diabetes Typ 2, der ja eher mit dem Lebensstil zusammenhängt. Was sind die Ursachen?
Prof. Dr. Neu: In der Tat. Sie haben Recht. Auch der Diabetes Typ 2 nimmt zu und auch hier erwarten wir eine dramatische Zunahme der Fallzahlen in den kommenden Jahren. Beim Typ 1 Diabetes liegt das nicht so unmittelbar auf der Hand. Der Typ 1 Diabetes ist unverschuldet eine Autoimmunerkrankung – niemand kann durch seinen Lebensstil oder durch sein Verhalten die Entstehung eines Typ 1 Diabetes aufhalten, verhindern oder verzögern.
Die genauen Ursachen, die zu diesem Anstieg führen, kennen wir bis zum heutigen Tage nicht.
Also da stochert die Wissenschaft wirklich noch im Dunkeln?
Prof. Dr. Neu: Ja, genau. Und es gibt kaum einen Faktor, den man nicht analysiert hat im Zusammenhang mit der Zunahme des Typ 1 Diabetes. Man hat den Lebensstil, klimatische Faktoren und demographische Faktoren untersucht, um einen Zusammenhang zu finden. Aber das ist bis zum heutigen Tag nicht gelungen. Und die simple, ernüchternde Antwort heißt: Wir wissen nicht, warum der autoimmune Typ 1 Diabetes zunimmt.
Könnten Sie kurz erklären, was bei dieser Autoimmunkrankheit passiert?
Prof. Dr. Neu: Wie bei jeder Autoimmunerkrankung produziert der Körper Antikörper, die dann körpereigene Anteile zerstören. Man könnte platt sagen: Der Körper schießt sich ein Eigentor.
Sind auch Kinder besonders von dieser Autoimmunkrankheit betroffen?
Prof. Dr. Neu: Gerade beim Typ 1 Diabetes ist die Zahl der Neuerkrankungen gerade im Kindesalter besonders hoch. Insbesondere die Altersgruppe der 10- bis 14-Jährigen zeigt eine außerordentlich hohe Neuerkrankungsrate. Historisch gesehen würde man den Typ 1 Diabetes als Krankheit des Kindes und Jugendalter betrachten. Aber wenn man alle Lebensabschnitte genauer unter die Lupe nimmt, stimmt es nicht mehr so ganz. Es treten durchaus auch Neuerkrankungen im Erwachsenenalter auf.
Diabetes Typ 1 senkt maßgeblich die Lebenserwartung, richtig?
Prof. Dr. Neu: Das hängt ein bisschen vom jeweiligen Gesundheitssystem ab. Und auch das hat diese Studie deutlich gezeigt. Die mittlere Lebenserwartung für Kinder, die jetzt im Alter von zehn Jahren einen Diabetes bekommen, variiert international enorm und variiert zwischen 13 Jahren in sehr wenig entwickelten Ländern und 65 Jahren in Mitteleuropa.
Das hat diese Studie sehr eindrucksvoll belegt. Dass der Wohlstand eines Landes und die Infrastruktur des Gesundheitssystems für die Lebenserwartung eine entscheidende Rolle spielen.
Was müsste man tun, wenn sich Diabetes Typ 1 verdoppeln würde? Was wären gesundheitspolitische wichtige Schritte?
Prof. Dr. Neu: Die aus diesen Erkenntnissen resultierenden Konsequenzen sind sehr klar. Wir brauchen ausreichend qualifiziertes Personal. Die Ausbildung von diesem Personal ist essenziell. Und hier gilt es, die Ausbildungskapazitäten nicht nur zu erhalten, sondern auszubauen. Aktuell sind an 37 medizinischen Fakultäten in Deutschland nur acht mit Betten für den Lehrstuhl Diabetologie ausgestattet. Das ist definitiv zu wenig.
Sie meinen das Personal in den Kliniken?
Prof. Dr. Neu: Nicht nur in den Kliniken, auch in den Praxen. Es ist eine große Diskrepanz zwischen dem Rückgang der Ausbildungskapazitäten einerseits und steigenden Neuerkrankungsraten andererseits. Und diese Diskrepanz gilt es zu überbrücken.
Wie sieht es mit der Aufklärung aus? Sind die Ärzte und die Bevölkerung aufgeklärt?
Prof. Dr. Neu: Hier gibt es Nachbesserungsbedarf, das ist ganz klar. Und eine Früherkennung der Erkrankung verhindert eine schwerwiegende Stoffwechselentgleisung. Die Symptome sind leicht zu erkennen und auch für jeden Laien leicht zu erkennen. Das ist vermehrter Durst, vermehrtes Wasserlassen, Gewichtsabnahme und eine Abnahme der Leistungsfähigkeit. Wenn diese Symptome vorhanden sind, sollte der Weg rasch zum Arzt führen. Die Diagnose ist stellbar mit einem einzigen Tropfen Blut innerhalb von 30 Sekunden.
Sind Sie angesichts der Zahlen besorgt?
Prof. Dr. Neu: Ohne Frage sind wir besorgt. Vor allem deshalb, weil unser Gesundheitssystem auf diesen Ansturm, auf diese Ausweitung der Fallzahlen nicht ausgerichtet ist.