In Deutschland ist jeder vierte Erwachsene stark übergewichtig. Eine Spritze mit dem Wirkstoff Semaglutid, ursprünglich nur für Diabetiker gedacht, sorgt auch für Gewichtsverlust – ein Fortschritt in der Adipositastherapie?
Abnehmen durch ein Medikament – also her mit der Wunderspritze! Solche Anfragen bekommt Birgit Schilling-Maßmann, Hausärztin mit Schwerpunkt Ernährungsmedizin, jetzt öfter. Aber die Medizinerin dämpft die Erwartungen, Fettleibigkeit, also Adipositas, sei nicht so leicht beizukommen:
Der Wirkstoff Semaglutid
Aktuell geht es um den Wirkstoff Semaglutid. Auf dem Markt ist er bereits als Diabetes-Medikament. Hier war aufgefallen, dass Semaglutid nicht nur den Blutzuckerspiegel senkt, sondern die Patienten unter der Therapie auch abnehmen. Nun stand die Frage im Raum: hilft der Wirkstoff auch stark übergewichtigen Nicht-Diabetikern? Und das ist offenbar der Fall, wie eine aktuelle Studie aus dem New England Journal of Medicine zeigt.
Semaglutid lässt die Pfunde purzeln: in 68 Wochen verloren die Teilnehmenden im Schnitt 15% ihres Gewichts. Beeindruckende Werte – findet Jens Aberle, Diabetologe und Leiter des Adipositaszentrums am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf:
Übergewicht in Deutschland
Eine Therapie gegen das Übergewicht ist notwendiger denn je. Rund zwei Drittel der Männer und die Hälfte der Frauen in Deutschland sind übergewichtig. Ein Viertel der Erwachsenen ist sogar stark adipös, also übergewichtig, mit einem BMI über 30. Steigendes Gewicht bedeutet gleichzeitig eine sinkende Lebenserwartung. Wer einen BMI von über 40 hat, verliert statistisch gesehen 12 Lebensjahre.
Marco, 53, wollte deswegen etwas gegen sein Übergewicht tun, 160 Kilo brachte er auf die Waage. Und weil er auch Diabetiker ist, konnte ihm sein Arzt die Semaglutid-Spritze verordnen. Seinen Diabetes hält er damit im Zaum – und er hat abgenommen: 30 Kilo in einem halben Jahr.
Wie wirkt Semaglutid?
Semaglutid ahmt ein Hormon nach, GLP1, das im Darm gebildet wird un dem Gehirn Sättigung meldet – der Appetit lässt also nach. Marco setzt sich die Spritze einmal die Woche ins Unterhautfettgewebe. Klingt unproblematisch, ist es aber nicht, betont die Ernährungsmedizinerin Birgit Schilling-Maßmann.
Nebenwirkungen der Semaglutid-Therapie
Über Übelkeit und Durchfall klagen 3 von 4 Menschen, das zeigt die Studie mit Semaglutid. Manche bekamen Gallensteine. Zudem wurde Semaglutid in der Studie sehr hoch dosiert, doppelt so hoch wie in der Diabetestherapie üblich. In Tierversuchen stieg mit höherer Dosis die Gefahr für Schilddrüsen- und Bauchspeicheldrüsenkrebs. Jens Aberle vom Universitäsklinikum Hamburg-Eppendorf sieht allerdings kein Problem: "Das ist bei neuen Medikamenten immer so. Dass man nicht weiß, was 10 Jahre später ist. Vergleichbare Medikamente haben über 10 Jahre allerdings keine negativen Effekte gezeigt."
Birgit Schilling-Maßmann hat mehr Bedenken:
Das Medikament sei zwar geprüft, aber unter anderen Dosierungen. Wie sich das dann lebenslang auswirke im Individuum, das könne niemand sagen.
Semaglutid als Anti-Adipositasmedikament
Derzeit beantragt der Hersteller die Zulassung von Semaglutid als Anti-Adipositasmedikament. Als solches müsste es dann von Patientinnen und Patienten voraussichtlich selbst bezahlt werden. Denn die Krankenkassen sehen es nicht als erwiesen an, dass der Wirkstoff auch die Folgeerkrankungen von Übergewicht mindert. Auf den Selbstzahler kommen mehrere hundert Euro im Monat zu.
Und heilen kann die Spritze krankhaftes Übergewicht nicht. Birgit Schilling-Maßmann erklärt:
Denn in der Steinzeit war Übergewicht ein Vorteil, der das Überleben sicherte. Und so tickt unser genetisches Programm noch heute.
Wichtig, sagt die Ärztin, sei deswegen, im Einzelfall genau zu schauen, woher das Übergewicht überhaupt kommt. Medikamente? Begleiterkrankungen? Falsche Ernährung oder auch seelische Not – so wie bei Marco. Er weiß, dass die Spritze zum Abnehmen ihn nicht heilen kann.