Vom frühen Mittelalter über die Renaissance bis zum Spätbarock: Über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten entstand Musik, die heute unter dem Begriff „Alte Musik“ zusammengefasst wird. Grund genug, aus dieser Fülle ein paar Spezialitäten vorzustellen.
- Die Rosenkranzsonaten von Heinrich Ignaz Franz Biber
- Requiem von Francesco Cavalli
- Toccata und Fuge in d-Moll von Johann Sebastian Bach
An dem reichen Schatz der Alten Musik bedienen sich zahlreiche Ensembles. Innerhalb der Noten verstecken sich Geheimnisse, die erst bei genauer Betrachtung zum Vorschein kommen. In der Reihe Hingehört! – Stars der Alte-Musik-Szene und ihre musikalischen Favoriten stellen die bekanntesten Interpretinnen und Interpreten der Alte-Musik-Szene ihre Lieblingsstücke vor.
„Per du“ mit den Rosenkranzsonaten von Heinrich Ignaz Franz Biber
Die Geigerin Meret Lüthi kennt den Zyklus der Rosenkranzsonaten mittlerweile so gut, dass sie „per du“ mit der Musik ist. Die Sonaten sind vor 1687 entstanden, eine genaue Datierung gibt es nicht. In diesem Jahr starb der Salzburger Erzbischof Max Gandolf von Kuenburg, ihm ist Zyklus gewidmet.
Besondere Beachtung verdient die Ciacona, der erste Satz der vierten Sonate. Biber vergab selbst zwar keine Titel, in einem möglichen Autographen sind jedoch vor den jeweiligen Sonaten Kalligrafien gesetzt, bei der vierten Sonate ist die Darstellung Jesu im Tempel zu sehen, ein beliebtes Motiv, neben der Musik auch in der Darstellenden Kunst.
Der schreitende Charakter der Ciacona erinnert an eine Prozession, als könnte man der heiligen Familie beim Gang zum Tempel zuhören. Vier Takte stellen dabei ein Thema vor, das wiederholt wird, vier weitere Takte schließen das Motiv. Die Motive steigern sich stetig, der Gang intensiviert sich.
Lüthi zeigt in ihrer Interpretation, wie andächtig Instrumentalmusik sein kann, eine Funktion, die oft der Vokalmusik zugeschrieben wird. Teil der Darbringung im Tempel war das Reinigungsopfer.
Gemäß der Bibel sollen ein einjähriges Schaf und eine Felsentaube geopfert werden, bei fehlenden finanziellen Mitteln reichten zwei Turtel- oder Felstauben aus (Lev 12, 1–8). In der Musik ist jenes Opfer zu hören, ein rascher Bogen über die Saiten zeichnet die Tauben, wie sie wild durch den Tempel flattern.
Heinrich Ignaz Franz Bibers Ciacona in d-Moll, gespielt von Meret Lüthi
Zittern vor dem jüngsten Gericht: Francesco Cavallis Requiem
Während Cavallis Requiem 1675 entstand, nutzte er eine Technik, die sich im vorherigen Jahrhundert großer Beliebtheit erfreute: die Vokal-Polyphonie. Cavalli schrieb die Totenmesse für sich selbst, nach seinem Tod sollte sie zwei Mal pro Jahr aufgeführt werden.
Eine der Besonderheiten erklärt die Oboistin und Schalmei-Spielerin Katharina Bäuml: Hier gebe es keine Hierarchien, ob vier Sänger und ein Instrument beteiligt seien oder umgekehrt, die Musik und Dynamik sollte einfach funktionieren, die Stimmen waren untereinander austauschbar.
Das Herzstück des Requiems ist das „Dies irae“, hier wird ein Gemälde des Jüngsten Gerichts gezeichnet. Die ersten Takte beginnen langsam, doch der Sturz in die Tiefe geschieht rasant, nach nur wenigen Takten verdoppelt und vervierfacht sich die Geschwindigkeit. Ein Phänomen, das sich am besten in einer großen Kathedrale mit viel Echo bestaunen lässt.
Cavalli zeigt in diesem Stück, wie mit musikalischen Mitteln das jüngste Gericht eindrucksvoll gezeichnet werden kann: So betteln die zu richtenden mit zitternder Stimme, dargestellt durch einen Tremor. An späterer Stelle bricht der Chor auf in einzelne Stimmen. Jede einzelne bettelt um Erlösung.
„Dies irae“ aus Francesco Cavallis Requiem unter der Leitung von Katharina Bäuml
Weltbekannt: Johann Sebastian Bachs Toccata und Fuge in d-Moll
Sie ist das berühmteste Orgelstück der Welt: die Toccata und Fuge in d-Moll von Johann Sebastian Bach. Auch unter Organistinnen und Organisten ist das Stück beliebt, eine Wiederentdeckung ist es also keinesfalls. Doch hinter der Prominenz des Stückes verbergen sich Herausforderungen, die viele gar nicht auf dem Schirm haben.
Denn an der Orgel gibt es keine Dynamik, mit den Tasten lässt sich die Lautstärke nicht wie am Klavier steuern. Ton Koopman ist einer der bekanntesten Organisten und erklärt, wie man dennoch die Toccata spannend gestaltet.
Ein Mordent – also ein Triller zur nächst tieferen Note – verschafft der berühmten ersten Note der Toccata den bekannten Klang. Das Timing spielt hierbei eine wichtige Rolle, nicht zu lang und nicht zu kurz darf der Triller sein.
Ton Koopman spielt J. S. Bachs Toccata und Fuge in d-Moll
Das gesamte Stück ist gespickt mit Kontrasten, in keinem anderen Stück arbeitet Bach mit so vielen Tempoänderungen. „Diese Musik ist Theater“ sagt Ton Koopman, doch sie brauche Zeit – und den richtigen Raum. Eine kleine Kirche mit trockener Akustik bedarf einer anderen Interpretation als eine riesen Kathedrale mit viel Hall.
Der Theorie, das die Toccata ursprünglich ein Stück für Geige gewesen sei, erteilt Koopman eine klare Absage. Dafür sei vor allem die Fuge zu dicht und zu leise. Eine weitere Besonderheit des Stückes: Es endet in Moll. Das ist zwar ungewöhnlich – auch bei Bach – doch die ältesten Quellen belegen es.
Alle Folgen von „Hingehört“
Hingehört - Stars der Alte-Musik-Szene und ihre musikalischen Favoriten „Ich improvisiere sehr gern und sehr viel!" der Lautenist Wolfgang Katschner über „Zefiro torna“ von Monteverdi
„Zefiro torna” von Claudio Monteverdi hat der Lautenist und Ensembleleiter der lautten compagney Berlin in den 1990er Jahren kennengelernt, als er bei diversen Monteverdi-Programmen mitgespielt hat. Für sein Ensemble, das mit der Sängerin Dorothee Mields zusammen musiziert, hat er es neu eingerichtet. Es ist eines seiner Lieblingsstücke, weil die „Ciacona ist für uns Musiker immer etwas sehr feines, weil Ciaconen oder auch andere Ostinatostücke in der Regel sehr schwungvoll sind, Spaß machen zu spielen und gut ankommen. Und vokale Ciaconen gibt es nicht so viele und hier ist eine, die ist vokal und auch ziemlich lang und einfach ein sehr, sehr, sehr schönes schwungvolles Stück Musik.“ Wie er es für sein Ensemble arrangiert hat, erzählt er hier.
Claudio Monteverdi:
Zefiro torna, e di soave accenti, SV 251
Dorothee Mields (Sopran)
Lautten Compagney
Leitung: Wolfgang Katschner
Hingehört - Stars der Alte-Musik-Szene und ihre musikalischen Favoriten „Ich könnte dazu jetzt noch zehn weitere Patterns aufschreiben“- Lautenist Wolfgang Katschner über seine Art, alte Melodien zu arrangieren
Melodien aus „The English Dancing Master“ von John Playford, eine Sammlung von alten Liedern, Tänzen, Tanzmelodien hat Wolfgang Katschner für sein Ensemble arrangiert. „Gedacht war das damals so, dass eine einzelne Person die Melodie auf einer Tanzmeistergeige spielt plus vielleicht eine Schelle am Bein oder jemand spielt noch Schlagwerk dazu. Wie er die Melodien von „Virgin Queen“ und „Bobbing Joe“ für sein Ensemble instrumentiert und eingerichtet und auch verändert hat, erzählt er hier.
John Playford:
Virgin Queen,
Bobbin Joe
Lautten Compagney
Leitung: Wolfgang Katschner
Hingehört – Stars der Alte-Musik-Szene und ihre musikalischen Favoriten „Ein musikalisches Denkmal“ – Dirigent Andrea Marcon über die h-Moll-Messe von J. S. Bach
Der Cembalist, Organist und Dirigent Andrea Marcon ist schon als Kind fasziniert von Bach’s Musik. Als er 15 Jahre alt ist schenkt sein Vater ihm eine Schallplatte mit der Aufnahme der h-Moll Messe von Bach. Marcon kannte das Werk damals noch nicht und ist baff: er hatte vorher noch nie etwas so Schönes gehört, er muss deshalb sogar weinen und an anderer Stelle bleibt ihm die Luft weg, soviel überschwängliche Freude steckt darin. Seitdem ist die h-Moll Messe eines seiner Lieblingsstücke. Was er über die Sätze „Crucifixus“, „Cum sancto spiritu" und „Dona nobis pacem“ denkt, erfahren Sie hier.
Stars der Alte-Musik-Szene und ihre musikalischen Favoriten „Barbarische Schönheit – das e-Moll-Concerto von Telemann ist und bleibt ein Hit“
Es ist ein Unikat, das Concerto in e-Moll für Blockflöte, Traversflöte, Streicher und B.c. von Georg Philipp Telemann, sagt der Blockflötist Michael Schneider. Er kennt es in -und auswendig, weil er sehr oft auf der Blockflöte, auch mal auf der Traversflöte gespielt hat. Es steckt viel drin in diesem Concerto: ein Liebesduett zum Dahinschmelzen und einen flotten Satz, der besonders viel Spaß beim Spielen macht: Da wird ein Lied zitiert, dessen Text nicht ganz stubenrein ist und dann steht die Welt auch mal auf dem Kopfe, sagt Michael Schneider.
Hingehört - Stars der Alte-Musik-Szene und ihre musikalischen Favoriten Leila Schayegh – Am Ende eine ganze Welt beschrieben
Die Sonata VI Z 807 von Henry Purcell ist ein Lieblingsstück von der Barockgeigerin Leila Schayegh. Eine Triosonate, die auf einem ostinaten Bass basiert. „Am Schluss habe ich das Gefühl, ich habe eine ganze Welt beschrieben“, sagt Leila Schayegh „weil die Gefühle so komplex sind, auch wie sie zusammenhängen, es gibt so unglaubliche Verbindungen, wie man von einem Gefühl ins andere kommt. Wenn man sich zu hundert Prozent in diese Gefühle rein gibt, auch wenn sie manchmal schnell wechseln, alle zwei Takte manchmal, dann hat man am Schluss alles gesagt“.
Henry Purcell:
Sonate g-Moll, Z 807, Ten sonata's in four parts, Z 802-811 (London, 1697) [Nr. 6]
La Centifolia
Leitung: Leila Schayegh
Hingehört - Stars der Alte-Musik-Szene und ihre musikalischen Favoriten Die Geigerin Meret Lüthi und ihre Begeisterung für Bibers Ciacona aus den Rosenkranzsonaten
Meret Lüthi hat sich schon lange mit der Violinmusik von Heinrich Ignaz Franz Biber auseinandergesetzt. Als sie vor über 20 Jahren zum ersten Mal seine Sonata representativa gespielt hat, fühlte sie sich vollkommen elektrisiert. Und das passiert ihr mittlerweile regelmäßig mit Bibers Musik. Bei der Ciacona aus den Rosenkranzsonaten ist es das improvisatorische Element, das sie fasziniert. Verzierungen und Ornamente spielen sowohl bei der Solo-Geige, als auch bei der Continuo-Gruppe eine wichtige Rolle. Beide inspirieren sich gegenseitig und werfen sich dabei die Bälle zu. Aber auch der spirituelle Hintergrund der Rosenkranzsonaten, die sich mit den einzelnen Stationen im Leben der Gottesmutter und ihres Sohnes Jesus Christus befassen, fließen in Meret Lüthis Interpretation ein.
Hingehört - Stars der Alte-Musik-Szene und ihre musikalischen Favoriten Die Blockflötistin Dorothee Oberlinger und ihre Liebe zu Bachs 4. Brandenburgischen Konzert
Als die Blockflötistin Dorothee Oberlinger schwanger war mit ihrem Sohn, spielte sie das Brandenburgischen Konzert Nr. 4 von Johann Sebastian Bach öfter. Bis April musizierte sie u.a. mit der Münchner Hofkapelle oder mit der Staatskapelle Berlin. „Im Mai kam mein Sohn auf die Welt und dann liefen die Brandenburgischen Konzerte bei uns im CD-Player und er hat tatsächlich immer sehr positiv darauf reagiert.“ Auch sie hat das 4. Brandenburgische schon als Kind kennengelernt, bei ihren Eltern stand eine LP im Plattenschrank. „Ich glaube es war Harnoncourt unter anderem mit Frans Brüggen an der Flöte. Dieses Werk begleitet mich durch mein Blockflötenleben schon ganz, ganz lange.“
Hingehört - Stars der Alte-Musik-Szene und ihre musikalischen Favoriten Michi Gaigg über Rameaus Orchestersuite aus der Oper "Hippolyte et Aricie"
Die Dirigentin und Geigerin Michi Gaigg sagt, wenn man Musik von Mozart und Haydn spielen will, kommt man ohne das Wissen der französischen Barockmusik des 17. und 18. Jahrhunderts, ohne das Wissen über deren Spielweise, deren Verzierungen und deren Architektur nicht aus. Sie hat dieses Wissen und eines ihrer Lieblingsstücke ist die Suite aus „Hippolyte et Aricie“ von Jean-Philippe Rameau. In dieses Stück hat sie sich verliebt, als sie in Holland bei Sigiswald Kuijken studiert hat. Schon die Ouvertüre, sagt sie, war wie ein Donnerschlag für Sie.
Alte Musik In der Werkstatt von Jean-Philippe Rameau: Konzerte im Taschenformat "Pièces de clavecin en concerts"
"Die Schüchterne", "Pantomime" oder "Die Indiskrete" heißen die Satzüberschriften von Rameaus "Pièces de clavecin en concerts": diskrete Anspielungen auf Menschen und ihre Eigenschaften. Die "Piéces" sind die einzigen kammermusikalischen Stücke aus Rameaus Feder, Cembalokonzerte im Taschenformat, mit einer Geige und einer Gambe als Begleitinstrumente. 1741 hat er dieses Feuerwerk an musikalischen Ideen im Druck veröffentlicht, auf der Höhe seines künstlerischen Ruhmes.
Ein paar Jahre früher mischte Rameau mit seiner ersten Oper "Hippolyte et Aricie" die Musikwelt auf - die Geigerin Michi Gaigg gibt Einblicke.
Jean-Philippe Rameau:
Bruit de tonnerre aus: Hippolyte et Aricie. Suite für Orchester
L'Orfeo Barockorchester
Leitung: Michi Gaigg
Jean-Philippe Rameau:
aus: Pièces de clavecin en concerts:
La Forqueray
La timide - Rondeau I und II
Tambourin I - Tambourin en rondeau
Rachel Podger (Barockvioline)
Jonathan Manson (Viola da gamba)
Trevor Pinnock (Cembalo)
Jean-Philippe Rameau:
Hippolyte et Aricie. Suite für Orchester
L'Orfeo Barockorchester
Leitung: Michi Gaigg
A cappella auf YouTube Voces8: Alte Musik, Pop und die Vielseitigkeit der menschlichen Stimme
Millionen YouTube-Clicks und eine Grammy-Nominierung 2023: In Sachen Repertoire haben die Sängerinnen und Sänger von Voces8 kaum Berührungsängste.
Alte Musik Wild, stark, mutig: Die Komponistin Barbara Strozzi
Vielleicht ist Barbara Strozzi die bedeutendste Komponistin der Barockzeit. 1619 wurde sie in Venedig geboren und machte singend und komponierend eine ungewöhnliche Karriere. Sie hat ihre Musik in 8 großen Sammlungen im Druck herausgebracht; immer geht es darin um die menschlichen Leidenschaften: um Liebe und Schmerz, Demut und Überschwang. Doris Blaich spricht über diese faszinierende Frau mit der amerikanischen Musikwissenschaftlerin Beth Glixon und mit der Sopranistin Dorothee Mields. (SWR 2019)
Musikliste:
Barbara Strozzi:
"Mi fa rider la speranza", Aria op. 7 Nr. 10
Emöke Baráth (Sopran)
Il pomo d'oro
Leitung: Francesco Corti
"L'Eraclito amoroso", Kantate op. 2 Nr. 14
Dorothee Mields (Sopran)
Hille Perl (Viola da gamba)
Lee Santana (Laute)
(Live-Mitschnitt von den Ettlinger Schlosskonzerten des SWR)
"L'astratto", Kantate op. 8 Nr. 4
Emöke Baráth (Sopran)
Il pomo d'oro
Leitung: Francesco Corti
"Lagrime mie", Lamento op. 7 Nr. 4
Dorothee Mields (Sopran)
Hille Perl (Viola da gamba)
Lee Santana (Laute)
(Live-Mitschnitt von den Ettlinger Schlosskonzerten des SWR)
"O Maria quam pulchra es", Motette op. 5 Nr. 7
Maria Cristina Kiehr (Sopran)
Concerto Soave
"Priego ad amore", Madrigal op. 1 Nr. 15
Cappella Mediterranea
Leitung: Leonardo García Alarcón