Ein klingendes Denkmal
Vor 100 Jahren schrieb Maurice Ravel seine Suite „Le Tombeau de Couperin“. Jeder Satz ist einem seiner Freunde gewidmet, die im ersten Weltkrieg gefallen waren. Betrand Chamayou spielte den „Tombeau“ in einem Ettlinger Schlosskonzert des SWR am 12.04.2015.
Rätsel Ravel
„Es gibt keine rätselhaftere Figur in der Galerie der neueren Komponisten als die Maurice Ravels. Jeder Versuch, zwischen seiner Musik, dieser raffinierten, bald aufpeitschenden, bald dämonischen, bald sinnlich-kitzelnden Nervenkunst und den bekannten Tatsachen seines Lebens eine Verbindung herzustellen, mündet in Ratlosigkeit … Kaum glaubt man einen Generalnenner für Leben und Werk gefunden zu haben, so wird man in unlösbare Widersprüche verwickelt, die einen noch mehr verwirren.“ (Hans Heinz Stuckenschmidt)
Ravel, der Rätselhafte: Kriegsteilnehmer und Kosmopolit, beliebter Salon-Dandy à la Baudelaire und zugleich zurückgezogen und introvertiert, ein Spieldosen-Nerd mit dem übergroßen Portrait der Mutter hinter dem Flügel und ein hochempfindsamer musikalischer Impressionist – dieser frühvollendete Virtuose war seit jeher eine anscheinend unlösbare Knobelaufgabe für die Biographen. Ebenso vielseitig und janusköpfig wie der Komponist ist seine Musik: Voller Jubel und scheinbar unbekümmerter Spielfreude einerseits, gedankenvoll und formal ausgesprochen komprimiert andererseits. Dem glasklaren, kristallinen Klang seiner Stücke steht ein zutiefst klassizistisches Formdenken gegenüber. Ravel strukturierte seine Musik im Kopf, bevor er sie niederschrieb; die längste Arbeitsphase war das „Aussondern überflüssiger Noten“, was schon mal mehrere Jahre dauern konnte. Jedenfalls konnte man sicher sein, dass hinterher nichts übrig blieb, was nicht Hand und Fuß hatte.
Le Tombeau de Couperin
Eine „Suite française für Klavier“ wollte Ravel 1914 schreiben, am Vorabend des ersten Weltkrieges – und mit der Widmung an Francois Couperin, den berühmten Cembalisten des 18. Jahrhunderts, auch der französischen Musik ein Denkmal setzen (tombeau heißt Grabmal). „Couperin“ ist aber nur ein pars pro toto für das, was im nationalistischen Geist der Zeit als die originäre französische Musik galt (in Abgrenzung zur deutsch-klassischen Achse Beethoven-Brahms): Die kristalline, fein ziselierte Hofmusik aus der Zeit des Absolutismus. Debussy, der zuweilen mit „musicien français“ unterschrieb, war ein Leuchtturm dieser programmatischen Rückbesinnung, und Ravel, der Debussy bewunderte, aber wesentlich humorvoller und kosmopolitischer war, machte mit „Le Tombeau“ seine Reverenz. Dieses „Grabmal“ – das erst 1917 fertiggestellt wurde, nach Ravels Kriegseinsatz als Lastwagenfahrer – ist nicht nur eine nationalistische Devotionalie. Ravel verarbeitete darin auch den Tod seiner Mutter (1917) und den seiner gefallenen Kameraden, denen je ein Satz gewidmet ist.
Spielfreude siegt!
Musikalisch ist das Stück dennoch nicht wirklich ein Trauerstück. Im Gegenteil, es herrschen große Spielfreude, ein packender Schwung und mechanischer Drive, wie z.B. in der Toccata und in der Rastlosigkeit der Forlane, die wie eine Spieluhr abschnurrt. Einzig das Menuett schlägt melancholischere Töne an. Unter den historischen Tanzformen findet sich auch ein Kuriosum: Die Aufnahme der altertümlichen Forlane (ital. furlana) in den Zyklus ist eine ironische Anspielung auf ein päpstliches Dekret der Zeit, das den unzüchtigen Tango verbietet und diesen alten Tanz als Ersatz empfiehlt (erfolglos, wie wir heute wissen).
Klangfenster in die Barockzeit
Überall erkennt man die historisierende Anspielung auf die barocke Cembalomusik: in den Satzbezeichungen, Formen, und auch in der Spielweise – in den durchgehenden Sechzehntel- und Zweiunddreißigstel-Bewegungen des Präludiums, des Rigaudon, der Toccata. Es ist leicht, durch die tänzerisch-hüpfende Forlane die Acciaccaturen hindurchklingen zu hören, jene Akkordbrechungen, die dezent mit harmoniefremden Tönen gewürzt sind und die der französischen Cembalomusik ihr apartes Gepräge geben (dazwischen schmuggelt Ravel auch den einen oder anderen Klang aus der Jazz-Welt). Angesichts der kristallklaren Musiksprache, der historisierenden Formen und überbordenden Spielfreude darf man also augenzwinkernd sagen: „Couperin“ ja, „Tombeau“ nein.
Betrand Chamayou
Bertrand Chamayou wurde in Toulouse geboren und studierte bei Jean-François Heisser am Conservatoire National Supérieur in Paris, später bei Maria Curcio in London. Leon Fleisher, Dmitri Bashkirov und Murray Perahia hatten weiteren Einfluss auf seinen musikalischen Werdegang. Mit 20 war er Preisträger beim Long-Thibaud-Wettbewerb.
Heute zählt er zu den gefragtesten Pianisten seiner Generation und ist unter anderem mit Solorecitals am Théâtre des Champs Elysées und Théâtre du Châtelet in Paris, im Herkulessaal München, in der Londoner Wigmore Hall, beim »Mostly Mozart«-Festival in New York, beim Lucerne Festival und beim Klavier-Festival Ruhr aufgetreten. Zu den Orchestern, die ihn verpflichtet haben, gehören das Orchestre de Paris, das London Philharmonic Orchestra, das Orchestre National de France, das Royal Scottish National Orchestra, das Dänische Radio-Symphonieorchester, das Orchestre Symphonique de Québec, die Rotterdamer Philharmoniker sowie das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR.
Mit großer Leidenschaft widmet sich Bertrand Chamayou auch der Kammermusik. Auftritte führten ihn in Konzertsäle weltweit, wobei Künstler wie Renaud und Gautier Capuçon, das Quatuor Ebène, Antoine Tamestit, Baiba Skride, Nicolas Baldeyrou und Sol Gabetta zu seinen Partnern gehören.