"Selten sind wir [seiner] Seele so nah wie in ihnen", hält Oscar Bie in seiner Biografie über Franz Schubert fest und verweist damit auf die sogenannten Impromptus – eine Vielzahl kleiner lyrischer Klavierstücke. Quasi improvisiert und im Vorbeigehen aufs Papier gebracht, erzählen sie von den emotionalen Befindlichkeiten des sonst eher "zugeknöpften" romantischen Komponisten. Im Oktober 2012 hat die amerikanische Pianistin Claire Huangci Schuberts drei letzten Klavierstücke D 946 im Rahmen der SWR2 Konzertreihe Internationale Pianisten in Mainz am Frankfurter Hof gespielt – unser Musikstück der Woche.
Bescheidenheit ist eine Zier
Franz Schubert hatte eine Schwäche: Obwohl er, wie er sagte, für nichts anderes auf die Welt gekommen sei, als das Komponieren, hielt er nicht viel von sich selbst: "Zuweilen glaube ich wohl selbst im Stillen, es könne etwas aus mir werden, aber wer vermag nach Beethoven noch etwas zu machen?" Dazu war er von äußerst bescheidener Natur. Die Aufführung seiner Stücke passierte fernab der Öffentlichkeit. In vertrautem Kreise, den berühmten Schubertiaden, spielte er alles, was er in seiner Kammer aufgeschrieben hatte. Dass er trotzdem als freischaffender Künstler überleben und arbeiten konnte, verdankte er seinem sozialen Netzwerk, Freunden und Bekannten, die ihn, wenn es finanziell knapp wurde – und das wurde es oft – unterstützten. Das Gefühl, von Menschen bewundert und gefeiert zu werden, mochte Schubert nie. Zu viel Aufmerksamkeit trieb ihm die Schamesröte ins Gesicht. Ihm ging es immer nur um die Musik. Jeglicher Kult um seine Person war ihm fremd. Vielleicht hielt er sich deshalb in Sachen Emotionen und Gedanken zurück, zumindest im zwischenmenschlichen Miteinander.
Auch wenn er vor anderen verbergen konnte, was ihm gerade durch den Kopf ging, musikalisch blieb Schubert alles andere als verschlossen. "Er hat Töne für die feinsten Empfindungen, Gedanken, ja Begebenheiten und Lebensumstände", schrieb Robert Schumann einmal bewundernd. Auch wenn nicht jeder Ton als autobiografischer Seismograph bewertet werden darf, gehört Schubert zweifelsohne zu den ersten Komponisten, die die Musik nutzten, um ihrem Innersten eine Form zu geben. Das Impromptu und Schubert hängen deshalb fest zusammen. Basierend auf der Improvisation und quasi emotional ungefiltert kommt darin ein Ton zum anderen und ergibt in der Summe ein klangstarkes Stimmungsbarometer.
Impromptu oder Seelenspiel?
Zu Schuberts Lebzeiten war das Impromptu als lyrisches Klavierstück noch ganz neu. Durch den tschechischen Komponisten Jan Václav Voříšek 1822 erstmals öffentlich bekannt gemacht, etablierte es sich nach und nach. Schubert schuf insgesamt drei Impromptu-Zyklen: die berühmten "Moments musicaux" (D 780) und „Impromptus“ (D 899 und D 935). Die drei Klavierstücke D 946 entstanden gesondert davon, in seinem Todesjahr 1928, einem der ertragreichsten in seinem kurzen Leben. Ob er sie als ein weiteres Heft herausbringen wollte, bleibt bis heute ungeklärt. Fest steht nur, dass sie in ihrer Vollkommenheit etwas Unvollkommenes haben, das sie im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen skizzenhaft macht.
Schuberst Klavierstücke wurden 1868 von Johannes Brahms posthum veröffentlicht. Bis heute bleiben sie hinsichtlich ihrer Popularität hinter den drei großen Zyklen. Dabei stehen sie ihnen sowohl musikalisch als auch technisch in nichts nach: Sie sind reich an expressiven Momenten und sinnlichem Ausdruck und vereinen technisch hoch virtuos Gegensätzliches: Dur trifft auf Moll, Aufruhr auf Gelassenheit, Hell auf Dunkel – eingebettet in ein spannungsreiches Wechselspiel zwischen euphorischem Lebensgenuss und romantischer Melancholie.
Claire Huangci (Klavier)
Claire Huangci möchte "Musik machen, an die man sich erinnert, nicht weil ich so schnelle Finger hatte, sondern weil sie so schön war – so schön, dass sie zu Tränen rührte." Die junge Amerikanerin vereint in ihrem Spiel technische Brillanz und musikalische Ausdrucksstärke. Geboren 1990, startete sie bereits als 9-Jährige ihre internationale Karriere: sie erspielte sich Stipendien und Preise und wurde vom damaligen US-Präsidenten Bill Clinton zu einer Privatsoiree ins Weiße Haus eingeladen. Wichtige Impulse erhielt sie dabei von ihren Lehrern Eleanor Sokoloff und Gary Graffman am Curtis Institute of Music in Philadelphia, bevor sie 2007 nach Deutschland zog, um an der Musikhochschule Hannover zu studieren.
Frédéric Chopin ist eins von Claire Huangcis großen Vorbildern. Seiner Musik verdankt sie ihren großen Durchbruch: Im Oktober 2009 erhielt sie den 1. Preis beim Internationalen Chopin-Wettbewerb in Darmstadt, im Februar 2010 den 1. Preis und alle Sonderpreise beim Chopin-Wettbewerb in Miami. Seitdem gehört sie zu den gefragtesten Pianistinnen weltweit. Regelmäßig arbeitet sie mit renommierten Orchestern wie dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, Sinfonieorchester Berlin, China Philharmonic Orchestra oder der Istanbul State Symphony zusammen und gastiert bei Festivals wie Kissinger Sommer, Menuhin Festival Gstaad, Schleswig-Holstein Musik Festival oder den Schwetzinger SWR Festspielen.