CD-Tipp vom 27.04.2018
Anna Maria da Violin
„Venezia“! Dieser alte Ruf ist immer noch eine Verheißung! Das neue Album von Midori Seiler und dem Ensemble Concerto Köln heißt verlockenderweise: „La Venezia di Anna Maria“. Die Meisterschülerin „Anna Maria da Violin" war eines der Waisenkinder im „Ospedale della Piéta“ in Venedig, wo Vivaldi von 1703 bis 1738 als „Maestro di Concerto“ Musikunterricht erteilte und die Konzerte und Oratorien für die wöchentlichen Aufführungen des „Ospedale“ probte und organisierte. Man weiß wenig über sie. Anna Maria hatte keinen Nachnamen, wie es allen Findelkindern ging, die von den frommen Schwestern in der Babyklappe entdeckt wurden. Aber sie hatte ganz sicher ein „P“ als Stempel des „Ospedale della Piéta“ auf der Fußsohle, ein Brandzeichen, das alle Schützlinge des Instituts bekamen. Alle diese Waisenkinder wurden musikalisch geschult, sie trugen mit ihren öffentlichen Konzerten zum Unterhalt des Klosters bei. Anna Maria war offenbar so begabt, dass sie nicht nur eine herausragende Virtuosin auf der Geige wurde, sondern außerdem Violoncello, Theorbe, Laute, Cembalo und Viola d’amore spielte. Sie wurde alsbald eine „Maestra“, wie das Archiv des „Ospedale“ verzeichnet, das heißt, sie durfte andere Kinder unterrichten. Ihr Virtuosenruhm reichte dann irgendwann weit über Venedig, über Italien hinaus. So weit, dass sie, beispielsweise, in Walthers „Musicalischem Lexikon“, das 1732 in Leipzig herauskommt, lobend erwähnt wird: Diese „Anna Maria da Violin“ aus Venedig, so heißt es da, sei auf eine Stufe zu stellen mit der berühmten Komponistin und Violinistin Jacquet de la Guerre aus Paris.
Transparente Stimmführung
Ingesamt 33 Konzerte hat Vivaldi für seine Meisterschülerin komponiert und ihr gewidmet. 4 dieser Konzerte hat Midori Seiler, langjährige Konzertmeisterin der „Akademie für Alte Musik Berlin“, jetzt mit dem Concerto Köln neu eingespielt. Midori Seiler ist nicht David Oistrach, ja, nicht mal Julia Fischer. Die unsauber schnalzenden Saitenwechsel, die ab der 3.Lage fahlen Farben, der konsequente Verzicht aufs Vibrato, das alles gehört definitiv zum Klangbild der historischen Aufführungspraxis, die, in dieser herben Spielart, mittlerweile auch schon wieder „old school“ ist. Aber Midori Seiler spielt, auch das muss fairerweise gesagt werden, nicht so viele falsche Töne, wie Daniel Hope. Sie hat ihren ganz eignen Sound. Tempo und Dynamik sind mitreißend, die Intonation ist lupenrein, die Stimmführung transparent, was will man mehr.
Originales "Spielbuch"
Es gibt heute mindestens zehn verschiedene Arten, sogenannte „alte“ Musik zu spielen. Dies ist eine davon. Und es gibt dutzendweise Aufnahmen dieser beliebten Vivaldikonzerte, sie sind unglaublich populär. Ja, es wurden inzwischen sogar schon Romane geschrieben über den „Roten Priester“, auch einer über seine Meisterschülerin, Anna Maria. Was aber wirklich neu ist an Midoris Seilers Album: Sie hat, was Verzierungen, Artikulation und Phrasierung angeht, das „Spielbuch“ der Anna Maria da Violin zu Rate gezogen. Es enthält die Abschrift von 31 Konzerten, für die Probenpraxis. Sehr wahrscheinlich gab es noch mehr solcher „Spielbücher“. Aber dieses hier ist überliefert, und neuerdings auch im Rahmen des IMSLP (des International Music Score Library Project) frei zum Download verfügbar. Midori Seiler ist die erste, die Vivaldi nach diesem originalen „Spielbuch“ spielt, mit musikwissenschaftlicher Beratung. Chapeau! Zum Vergleich hat Midori Seiler auch noch je ein Konzert eingespielt von zwei anderen Komponisten, die Anna Maria da Violin mit Sicherheit gekannt, von denen sie wahrscheinlich auch Stücke gespielt hat: Baldassare Galuppi und Tomaso Albinoni; auch die waren zeitweilig Lehrer am „Ospedale della Pieta“ in Venedig. Herausgekommen ist dieses empfehlenswerte Doppelalbum beim Label Berlin Classics, im Vertrieb von Edel.
CD-Tipp vom 27.04.2018 aus der Sendung SWR2 Treffpunkt Klassik - Neue CDs