Werkkommentar von Stefan Prins
Im Vergleich zu den Instrumenten eines Symphonieorchesters ist die E-Gitarre ein sehr junges Instrument. Seit den 50er-Jahren ist sie in der Pop- und Rockmusik allgegenwärtig, aber erst in jüngster Zeit haben Komponisten damit begonnen, sie in die zeitgenössische Musik zu integrieren, als Soloinstrument, in Ensembles und manchmal sogar innerhalb eines Orchesters.
Obwohl mein Interesse an Jazz-, Pop- und Rockmusik viel später kam als mein Interesse an zeitgenössischer "klassischer" Musik, war ich schon früh von der E-Gitarre fasziniert. Es mag als Beobachtung völlig uninteressant erscheinen, aber es handelt sich um ein Instrument, das Elektrizität, also Strom, braucht, um zu klingen, und sein Klang wird nicht vom Korpus des Instruments abgegeben, wie bei seinem akustischen Vetter, sondern von einem schwarzen Kasten, mit dem es über ein elektrisches Kabel verbunden ist: dem Verstärker. Damit befindet es sich an der Schnittstelle zwischen akustischem und elektronischem Klang, und genau das war es, was mich an dem Instrument fesselte.
Eine der ersten Kompositionen, in die ich Live-Elektronik strukturell integriert habe, Not I, habe ich genau aus diesem Grund für die E-Gitarre geschrieben. Hier habe ich einen weiteren "schwarzen Kasten" zwischen E-Gitarre und Verstärker geschaltet: einen Computer, der das elektrische Signal manipuliert und den Zusammenhang zwischen dem Spiel des Interpreten und dem entstehenden Klang verändert. Seit Not I taucht die E-Gitarre in vielen meiner Kompositionen für Ensemble und Live-Elektronik auf, in denen sie oft als Bindeglied zwischen den akustischen und elektronischen Klangentitäten fungiert.
Einige Jahre nach Not I, nämlich 2009, brachte mich das Schicksal (oder besser gesagt: Thomas Schäfer) mit dem E-Gitarristen Yaron Deutsch in Kontakt. Ich sollte ein Stück schreiben für das fantastische Ensemble, das er leitet, das Nikel Ensemble (Fremdkörper #2). Seitdem arbeiten wir zusammen und sind enge Freunde geworden. Yaron hat mehrere Stücke von mir uraufgeführt, und wir haben die Improvisationsband Ministry of Bad Decisions gegründet. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass ich als Komponist, Musiker und Mensch nicht da wäre, wo ich jetzt bin, wenn sich unsere Wege nicht gekreuzt hätten (und ich würde nicht den sensationellen Hummus machen, für den er mir sein Geheimrezept verraten hat). Ein Werk für ihn als Solist mit Orchester zu komponieren, war also ein logischer Schritt in unserer sich ständig weiterentwickelnden Zusammenarbeit, eine nächste Herausforderung, der wir uns als Team stellten, und es ist ein Zeichen unserer Freundschaft.
Während in Not I der Klang der E-Gitarre von einem Computer elektronisch manipuliert wurde, bevor er den Verstärker erreichte, wird der Klang, der von den verschiedenen, von Yaron in eigenwilliger Art und Weise aufgebauten Verstärkern kommt, in under_current durch das Orchester erweitert. Dieses fungiert (generell) als ein riesiger, menschlicher, analoger Meta- Verstärker. Die Vielzahl von Hebeln und Pedalen, mit denen der Klang der E-Gitarre live bearbeitet wird, findet ihre Entsprechung in der Verwendung von Gegenständen, die den Klang der Orchesterinstrumente verändern. Im Verlauf von under_current wird sich das Zusammenspiel zwischen allen "Verstärkern", den elektrischen und den analogen, verschieben und verändern, verzweigen und brechen, aufspalten und verschmelzen, und damit auch die Beziehung zwischen dem Menschlichen und dem Technischen.
under_current ist mein "Corona-Baby". Ich begann mit der Arbeit, als die "erste Welle" im Februar 2020 einsetzte, und etwa 18 Monate später, als ich meine zweite Impfung erhielt und eine "vierte" Welle sich abzuzeichnen schien, zog ich den Schlussstrich. In fast 20 Online-Sitzungen mit Yaron ist das Stück organisch gewachsen, wobei Yarons unschätzbarer Input ständig neue Ideen und Richtungen lieferte. In dieser Zeit des Chaos und der Ungewissheit auf der Welt war under_current mein Zufluchtsort, ein Haus, von dem aus ich auf das reagieren konnte, was jenseits seiner Mauern passierte, in dem ich frei leben und atmen konnte, ohne Maske und Distanz.
English
Compared to the instruments that make up the symphonic orchestra, the electric guitar is a very young instrument. Since the 50s it is omnipresent in pop and rock music, but only fairly recently have composers started to integrate it into the framework of contemporary music, as solo instrument, in ensembles and sometimes even within an orchestra. Even though my interest in jazz, pop and rock music came much later than my interest in contemporary "classical" music, I have been fascinated by the electric guitar early on. It might seem entirely underwhelming as an observation, but this is an instrument that needs electricity, current, in order to sound, and its sound isn't emitted by the body of the instrument, like its acoustic cousin, but rather by a black box to which it is connected via an electric navel cord: the amplifier. That positions it on the intersection of acoustic and electronic sound, and that was exactly what hooked me to the instrument.
One of the first compositions in which I structurally integrated live-electronics, Not I, was for this very reason composed for the electric guitar. Here I placed another "black box" in between the electric guitar and the amplifier: a computer that manipulates the electrical signal and changes the relationship between the gestures of the performer and the resulting sound. Since Not I, the electric guitar has featured in many of my compositions for ensemble and live-electronics, in which it often functions as a hinge between the acoustic and electronic sound layers.
A few years after Not I, in 2009, fate (or rather: Thomas Schäfer) brought me in touch with the electric guitarist Yaron Deutsch. I was to compose a piece for the fantastic ensemble he spearheads, Nikel Ensemble (Fremdkörper #2). We have been collaborating ever since and became close friends. Yaron has premiered several pieces of mine, and we founded the improvisation band Ministry of Bad Decisions. I can truly say that I would not be where I am as a composer, a musician and a human if our paths would not have crossed (and I would not be making the killer hummus of which he gave me his secret recipe). Composing a work for him as a soloist with orchestra, then, was a logical step in our ever-evolving collaboration, a next challenge we accepted as a team, and it is a token of our friendship.
Whereas in Not I, the sound of the electric guitar was electronically manipulated by a computer before it would reach the amplifier, in under_current the sound coming from the multiple amplifiers in Yaron's idiosyncratic setup is extended by the orchestra, which functions (generally) as a huge, human, analog meta-amplifier. The battery of pedals that are used to live-process the sound of the electric guitar, find an equivalent in the use of objects and preparations that transform the sounds of the orchestral instruments. Throughout under_current, the relationship between all the "amplifiers", the electrical and analog ones, will shift & shake, branch & break, split & merge, and with it the relationship between the human and the technological.
under_current is my "corona-baby". I started working on it with the onset of the "first wave" in February 2020, and about 18 months later, upon receiving my second vaccination, and a "fourth" wave seeming to take off, I drew the double bar. Through almost 20 online workshop sessions with Yaron, it has grown organically, Yaron's invaluable input constantly offering exciting new ideas and directions. In this period of worldly chaos and uncertainty, under_current has been my refuge, a house from which I could react on what's happening beyond its walls, in which I could live and breathe freely, without masks or distancing.