Donaueschinger Musiktage 2010 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2010: "Del reflejo de la sombra"

Stand
Autor/in
Alberto Posadas
Übersetzung
Till Knipper (aus dem Spanischen)

"Del reflejo de la sombra (Vom Spiegelbild des Schattens)" ist ein gänzlich eigenständiges Werk, doch kann es auch als Schlussstück eines Zyklus stehen, der sich zusammensetzt aus einem Quintett mit Stimme, einem Streichquartett und zwei kleineren Überleitungen. Sie alle können ohne Unterbrechung in einem Konzert aufgeführt werden.
Dieses Quintett zeichnet sich durch die Erweiterung eines Quartetts um eine Bassklarinette aus, die in der Lage ist mit den Streichern zu verschmelzen und gleichzeitig von diesen klar unterscheidbar bleibt. Die Klarinette soll sich also in den Quartettklang integrieren, ohne dabei ihre eigene Identität zu verlieren. Mal hat sie die Rolle des "Auslösers" von Prozessen, dann ist sie Zielpunkt des in den Streichern verarbeiteten Materials.

Die Grundideen dieses fünfteiligen Werks sind Geste, Erinnerung und Mutation des Materials.
In der dunstigen Klangatmosphäre der kurzen Einleitung werden drei primäre Klangtypen ins Geschehen eingeführt: erstens die gläsernen und metallischen Klänge im hohen Register unter Verwendung von "sul ponticello"-Spiel und Flageolett; zweitens Klänge einer sich entwickelnden, zwischen Ton und Geräusch vermittelnden Klangcharakteristik. Bei diesen handelt es sich um "gewöhnliche" Klänge, "Klang-Geräusche" mit Tonhöhenwahrnehmung, "Klang-Geräusche" ohne Tonhöhenwahrnehmung (Annäherungen an ein weißes Rauschen, etwa durch einen Überdruck des Bogens erzeugt), "Klang-Schatten", die sich wie versteckte Resonanzen verhalten, "Vibrationsklänge " unter Verwendung einer Flatterzunge bei der Klarinette oder metallische Vibrationen im Cello. Drittens und letztens die "hervortretenden Klänge", die sich von der klanglichen Oberfläche in der sie sich selbst befinden entweder als punktuelle Klänge oder als kleine heterophone Muster abheben.

Eben diese Oberflächen erscheinen als "Schatten" in denen eine Form erkannt, aber nicht im Detail wahrgenommen werden kann. Paradoxerweise gehen von diesen "Schatten" dennoch gewisse Lichtpunkte aus im Sinne der hervortretenden Klänge.

Abrupt eröffnet sich nach dem einleitenden Teil ein neuer Abschnitt, der einerseits das Vorangegangene kontrastiert, andererseits verwandelte Rückbezüge enthält. Der abrupte Charakter des Anfangs wird durch eine zentrale Instrumentalgeste im entwickelnden Durchführungsteil des Werks unterstrichen: eine abwärts gerichtete, arpeggierte Figur mit weiten Registerwechseln. Diese Geste verwandelt sich im Laufe des Quintetts und nimmt verschiedene Geschwindigkeiten, Artikulationen, instrumentale Dichtegrade, Richtungen und klangfarbliche Ausgestaltungen an. Sie wird einerseits als Trennungselement kontrapunktischer und texturbezogener Prozesse eingesetzt, enthält andererseits aber auch den Keim einer anderen instrumentalen Geste mit starken rhythmischen Artikulationen in unterschiedlichen klangfarblichen Ausformungen. Dieser zuletzt beschriebene Gestus gewinnt zunehmend an Bedeutung und bildet die abschließende Coda.

All diese präsentierten Klänge und Gesten aus der Einleitung und dem darauffolgenden Abschnitt werden in dem Maß zu einem musikalischen Material, in dem ein beziehungsreiches Spiels in der Erinnerung entsteht. Dieser Mechanismus impliziert einen zeitlichen Prozess, in dem sich das Erinnerte verwandelt: einige Eigenschaften gehen verloren oder werden verzerrt und andere neue kommen hinzu. Auf diese Weise ändern sich die beim Hören ergebenden Bedeutungsbezüge. Ein grammatikalisch generatives System, von mir in anderer Form schon in früheren Werken verwendet, bringt dieses Beziehungsnetzwerk zum Ausdruck.

Stand
Autor/in
Alberto Posadas
Übersetzung
Till Knipper (aus dem Spanischen)