Donaueschinger Musiktage | Werke des Jahres 2023

Joanna Bailie: 1979

Stand

für acht Musiker:innen, Video und Elektronik

Werkkommentar von Joanna Bailie

Für mich besteht kein Zweifel daran, dass mein Sinn für Nostalgie mit dem Älterwerden stetig gewachsen ist. Das ist sowohl logisch als auch unvermeidlich: Die Abstände zwischen der Gegenwart und den Dingen meines eigenen "Gestern" werden immer größer, sodass die Vergangenheit unscharf wird, schwer zu erinnern ist und folglich voller Mystik steckt. Meine Vergangenheit hat sich in Epochen verwandelt – die 1970er, 80er und 90er Jahre wurden verdaut, und jede Dekade ist durch eine Reihe von Merkmalen gekennzeichnet. Ich interessiere mich jedoch nicht so sehr für universelle Vorstellungen von Jahrzehnten, sondern eher für meine eigenen persönlichen. Ich möchte verstehen, wie die Zeiten, die ich durchlebt habe, mit meinen individuellen Erfahrungen kollidierten und Erinnerungen schufen, die von der Farbe einer Epoche geprägt waren. Sah das Leben anders aus, klang es anders und fühlte es sich anders an als heute? Ich glaube, die Antwort lautet ja, auch wenn ich keine Möglichkeit habe, Ihnen das zu beweisen. Alles, was ich habe, ist dieses seltsame Kribbeln ganz hinten in meinem Kopf, wenn ich versuche, mich zum Beispiel an 1979 zu erinnern, ein Jahr großer Umbrüche für mich als damals Fünfjährige, und wahrscheinlich das erste Mal, dass ich mir der Zeit, in der ich lebte, wirklich bewusst wurde.

In dem Stück 1979 wird das Bemühen, sich zu erinnern, mit einer anderen, fast gegensätzlichen Vorstellung verbunden, nämlich der Theorie, dass kein Ton in einem Raum jemals wirklich verloren geht – dass akustische Wellen noch lange weiter existieren, nachdem die ursprüngliche Quelle den Raum verlassen hat. Mit immer winziger werdenden Amplituden werden sie bis in alle Ewigkeit von den Wänden reflektiert. Diese Theorie, zu deren Befürwortern Persönlichkeiten wie Charles Babbage und Guglielmo Marconi gehörten, markiert einen Schnittpunkt zwischen dem Aufkommen der Aufnahmetechnik, Science-Fiction, Erinnerung und Poetik. Fast hundert Jahre nach Marconis Spekulationen über die ewige Natur des Schalls haben wir immer noch keine Möglichkeit, diese Wellen mit sehr geringer Amplitude zu entdecken oder zu erfassen, und wir haben auch keinen Beweis dafür, dass sie überhaupt existieren. Sicher ist jedoch, dass allein die Vorstellung von ihnen, von ihrer stetigen und ruhigen Akkumulation zu einem theoretischen Hintergrundgeräusch und von der Art und Weise, wie sie als eine Art Gedächtnis eines Raumes funktionieren könnten, verführerisch ist.

Die beiden wichtigsten musikalischen Prozesse in dem Stück sind also einerseits die Schichtung und Akkumulation von Klängen und andererseits die Wiederholung dieser Klänge, wenn sie zwischen den Wänden reflektiert werden. Im Laufe des Werks wird in verschiedenen Formen das präsentiert, was man als "Verzögerungsspektrum" bezeichnen könnte: eine Reihe natürlicher und künstlich erzeugter Phänomene, die vom Nachhall bis hin zu Kammfiltereffekten, Echo und imitierender Polyphonie reichen. Auch die Klangquelle für 1979 ist eine doppelte: Autos und Lieder. In vielerlei Hinsicht ist das Stück ein Versuch, diese beiden Quellen zu vereinen, indem sie denselben Prozessen der Akkumulation und Wiederholung unterzogen werden. Die fragmentierten Melodien der Autos werden zu Liedern, weil sie wiederholt werden, und die Lieder verwandeln sich durch ihre Übereinanderschichtung in etwas, das an Straßenlärm erinnert. Der Raum, in dem diese sich ewig reflektierenden Klänge zusammenkommen, ist ein imaginärer Raum, eine Verschmelzung von Wohnzimmern aus dem Jahr 1979 – Popmusik läuft im Fernseher, der Straßenlärm dringt durch die Fenster herein.

English

For me there is no doubt that my sense of nostalgia has been growing steadily as I've become older. This is both logical and inevitable: the gaps between the present and things of my own "yesteryear" are lengthening to the point where the past has become fuzzy, difficult to remember and consequently, full of mystique. My yesteryears have now turned into eras – the 70s, 80s and 90s have been digested, and each stamped with a distinctive set of attributes. However, I'm not so interested in universal ideas of decades, but rather in my own personal ones. I want to understand how the times that I lived through collided with my individual experience and created memories tinged with the colour of an era. Did life look, sound and feel different from how it does today? I believe that the answer is yes, though I have no way of proving it to you. All I have is the strange tickling sensation in the back of my mind when I try to remember, for instance, 1979, a year of great upheaval for the 5-year-old me, and probably the first time I was aware of the times that I was living in.

In 1979, the effort of remembering is brought together with another, almost contrary notion, the theory that no sound in a space is ever truly lost – that acoustic waves continue to exist long after the initial source has left the room, bouncing between the walls at ever more minuscule amplitudes for eternity. This theory, whose proponents included figures such as Charles Babbage and Guglielmo Marconi, inhabits an intersection between the advent of recording technology, science fiction, memory and poetics. Nearly 100 years after Marconi's speculations on the everlasting nature of sound, we still have no way of detecting or capturing these super-low amplitude waves, or indeed have any evidence that they exist at all. What is certain though, is that the very idea of them, of their steady and quiet accumulation into a theoretical background noise, and the way they might function as a kind of memory of a space, is a seductive one.

And so, the two principal musical processes in the piece are the layering and accumulation of sounds on the one hand and the repetition of these sounds as they are reflected between walls. What could be termed the "delay spectrum" – a range of natural and manmade phenomena starting with reverberation at one end, and passing through comb filtering effects, echo and imitative polyphony on the other, is presented in different forms throughout the course of the work. The sound source for 1979 is also twofold – cars and songs. In many ways the piece is an attempt to unite these two sources by subjecting them to the same processes of accumulation and repetition. The fragmented melodies of cars become songs because they are repeated, songs turn into something resembling ambient street noise through being piled up on top of one other. The space in which these forever-reflecting sounds are gathered is an imaginary one, an amalgamation of 1979 living rooms – pop music playing on the television, the noise of the road outside streaming in through the windows.

Stand
Autor/in
SWR