Hans Zender
Ich habe schon lange akzeptiert, dass mein Inneres mich von Werk zu Werk zwingt, auf die komplexe Situation der Gegenwart mit immer neuen ästhetischen Fragestellungen zu reagieren. Bei dem schon länger geplanten Stück für Donaueschingen musste sogar ein (schon weit ausgeführter) erster Entwurf in den Orkus verbannt werden und einem neuen weichen, der sich noch viel deutlicher von meinem 8. Canto Shir Hashirim abhob, mit dem das neue Stück im Hinblick auf Zeitdauer und Besetzung vergleichbar ist.
In Shir Hashirim (1992/96) hatte ich eine Lösung für eines der ererbten Grundprobleme der nachwebernschen Musik vorgelegt. Diese denkt ja von der kleinsten Zelle her, und sehr oft erscheint die Großform als eine bloße Aneinanderreihung von Sektionen. In Shir Hashirim dagegen schafft ein formales Netz die strukturelle Einheit eines über zweistündigen Zeitraumes; mittels fraktaler Techniken wird eine Vielheit gegensätzlicher musikalischer Gestalten durch ein System von Wiederholungen geordnet, so dass ein internes Speichergedächtnis entsteht. Das Donaueschinger Stück sollte nun eine Alternative zu diesem großformalen Organizismus bilden. Denn immer mehr war ich zu der Vorstellung eines Ganzen gelangt, das nicht mehr durch Ähnlichkeiten proportionaler Bezüge oder, ganz allgemein, durch kontinuierliche Abläufe sich bildet. Es sollte eine Folge musikalischer Einheiten entstehen, die kein gemeinsames Material verbindet, die auch nicht – weder psychologisch noch im Sinne einer musikalischen "Architektur" – einander zugeordnet sind.
Ihre Reihenfolge musste unbestimmt (d.h. vom Interpreten festzulegen) sein; ihr Charakter, ihre formalen Eigenschaften, auch ihre Zeitdauer sollten möglichst verschieden sein und keine Symmetriebildungen ermöglichen. Ja auch der einzelne Satz sollte, obwohl er seine Individualität klar zu entfalten hätte, nicht im üblichen Sinn perfekt und abgerundet erscheinen, sondern eher wie ein Ausschnitt aus einem imaginären Ganzen.
Eine Folge von verschiedenartigen Fragmenten also; wieso können diese aber den Anspruch stellen, zusammen ein Ganzes zu bilden – wenn auch in einem neuartigen Sinn? – Unsere Vorstellung von der Einheit eines Kunstwerkes ist normalerweise verbunden mit dem einen Autor, der es hervorbringt; von diesem Autor wiederum erwartet man, dass er eine gleichbleibende Sprache, einen "Stil" schreibt. Nun könnte man sich aber Autoren vorstellen, die sich in mehreren Sprachen bzw. Stilen ausdrücken; ebenso Werke, die von einer Vielzahl von Autoren produziert werden. In meinem Bewusstsein bildete sich plötzlich als Modell für mein Stück die Vorstellung einer jener Bibliotheken gnostischer und biblischer Schriften, wie sie als sensationelle Funde nach dem zweiten Weltkrieg an verschiedenen Orten aufgetaucht waren: Papyrus-Fragmente, schwer zu entziffern und chaotisch in ihrer Heterogenität, aber bei näherem Zusehen von größter Kohärenz durch das Band der gemeinsamen geistigen Ausrichtung und der Herkunft aus der gleichen kulturellen Region und historischen Zeit.
Hier gibt es sehr wohl eine Einheit, aber keine durch ein Subjekt geschaffene.
Damit war auch entschieden, dass ich die Texte für meine musikalischen Fagmente ähnlichen Quellen des 1. und 2. Jahrhunderts entnehmen würde. Dies kam auch meiner eigentlichen Absicht entgegen, mich in diesem Werk in besonderer Weise mit der Fähigkeit des menschlichen Bewusstseins zu Konzentration und Sammlung auseinander zu setzen. Dies wiederum hing mit der Faszination zusammen, welche die amerikanische Malerei der Jahrhundertmitte in immer noch wachsendem Maß auf mich ausübt. Rothko, Motherwell und Newman sind in meinen Augen die radikalsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Barnett Newman, auch als Theoretiker sehr scharfsinnig, scheint mir die kühnste, nie übertroffene Antwort auf die Situation der Moderne gegeben zu haben: Er antwortet auf die unmittelbare Konfrontation mit dem Chaos durch die ikonische Präsenz der gesammelten geistigen Einheit, die er bildnerisch auf den einfachsten – und dadurch provozierendsten – Punkt bringt. Über die Bedeutung des "Logos" für Newman schreibt Jean-François Lyotard 1983 in seinem Essay Der Augenblick. Barnett Newman (und markiert damit ebenfalls eine der radikalsten Positionen neuerer Philosophie):"Das Wort, wie ein Blitz in der Dunkelheit, oder eine Linie auf einer leeren Fläche, legt den Grund für jede Differenz. Es macht diese Differenz – so gering sie sein mag – bewusst erlebbar und schafft so eine neue Sphäre: die Empfindung." Newmans Kritik an der klassischen Moderne, die er zum – logoslosen – Ornament zurückfallen sieht, scheint mir heute, unter neuen historischen Vorzeichen, brandaktuell.
Meine Fragmente entstanden bzw. entstehen nun in freier Folge. Bisher sind sechs fertig ausgeführt, welche zusammen etwas über eine Stunde dauern; noch etwa ebenso viele sind skizziert (eines davon soll Barnett Newman gewidmet sein). Die verwendeten Texte sind Fragmente aus gnostischen Schriften, aus apokryphen Quellen und aus dem Johannes-Evangelium. Die Besetzung ist für 32 Gesangsstimmen und großes Orchester, wobei das Orchester symmetrisch in drei Gruppen im Raum angeordnet und die Sänger auf der gesamten Spielfläche zwischen den Instrumentalisten verteilt sind. Die Sänger sind alle sowohl Solisten wie Tuttisten – eine der Grundentscheidungen des Stückes, die übrigens seinerzeit durch ein Gespräch mit Hans-Peter Jahn ausgelöst wurde und dem SWR Vokalensemble "auf den Leib geschrieben" ist.
Diese räumliche Disposition fasst die Fragmente schon äußerlich zu einer Einheit zusammen. Zu ihrer inneren Konsistenz trägt aber vor allem die Identität der harmonischen und rhythmischen Konstruktion bei. In beiden Bereichen benutze ich Techniken, welche durch strengste Gesetze die Willkür des komponierenden Subjekts reduzieren: eine (72 Töne pro Oktave nutzende) Harmonik aus Summen und Differenzen von Grundintervallen, eine Rhythmik, welche durch Überlagerung verschieden großer Periodizitäten sich bildet (der gesamte Johannes-Prolog z.B. ist auf der Überlagerung von 16:11 aufgebaut). Rhythmik und Harmonik erhalten dadurch etwas "Rituelles", das von sich aus – also nicht durch inhaltliche Bezüge – den Hörer zu gesammelter Konzentration bringen will.
In Donaueschingen werden drei Fragmente (Nr. 1, 6 und 5) aufgeführt. Nr. 1, der eben erwähnte Johannes-Prolog, besteht aus zwei sich in schroffem Kontrast mehrfach ablösenden Formteilen (welche die beiden oft diagnostizierten stilistisch verschiedenen "Autoren" dieses Textes spiegeln). Das 6. Fragment setzt sieben kurze "Logien" des apokryphen Thomas-Evangeliums aneinander, kleinere Fragmente innerhalb eines großen, plötzlich wie auf einer Fermate stehen bleibend auf den Worten: "Bewegung und Ruhe". Das 5. Fragment ist ein als "Psalm" überlieferter kurzer Text des Gnostikers Valentinus, eine "offene" Form aus drei verschieden charakterisierten Teilen.
Das Werk als Ganzes ist, wie schon erwähnt, eng mit dem SWR Vokalensemble Stuttgart verbunden, das noch vor kurzem durch ebenso unverständliche wie barbarische Kürzungsankündigungen in seiner Existenz bedroht war. Es ist Sylvain Cambreling und dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg gewidmet, als Zeichen einer langen und tiefen freundschaftlichen Verbundenheit.
Hans Zender
FRAGMENT I
Johannes I, 1 – 17 (Wort-für-Wort-Übersetzung des griechischen Textes)
Im Anfang war der Logos, und der Logos war bei dem Gott
und Gott war der Logos. Dieser war im Anfang bei dem Gott.
Alles von ihm ist geworden, und ohne ihn ist geworden nicht eins das geworden.
In ihm Leben war, und das Leben war das Licht der Menschen:
und das Licht in der Dunkelheit leuchtet, und die Dunkelheit es nicht gefasst hat.
Es entstand ein Mensch, ausgesendet von Gott, der Name von ihm: Johannes.
Dieser kam zum Bezeugen, damit er bezeugte über das Licht,
damit alle Vertrauen fassten zu diesem.
Nicht war er selber das Licht, sondern: Er bezeugte über das Licht.
Es war das Licht das Wahrhaftige, das erleuchtet jeden Menschen,
der neu eintritt in den Kosmos.
In dem Kosmos war es, und der Kosmos durch dieses ist entstanden,
und der Kosmos dieses nicht erkannte.
In das Eigene kam es, und die Eignen dieses nicht aufnahmen.
Die aber aufnahmen dieses, denen gab es Fähigkeit, Kinder Gottes zu werden,
denen die vertrauten auf den Namen dieses,
die nicht aus dem Blut noch aus dem Willen des Fleisches
noch aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind.
Und der Logos Fleisch geworden ist und hat Wohnung genommen in uns,
und wir haben geschaut den Glanz dieses, Glanz wie der Erstgeborene vom Vater,
voll von Anmut und Wahrheit.
Johannes bezeugt über dieses und ruft laut, sprechend:
Dieser war’s, von dem ich sagte:
Der nach mir Gekommene ist vor mir entstanden, weil er vor mir war. Denn aus der Vollkommenheit dieses wir alle haben genommen, Schönheit über Schönheit.
FRAGMENT VI
Evangelium nach Thomas (Text aus Nag Hamadi)
1. Logion 2:
"Wer Ohren hat zu hören, der höre! – Wer sucht, der soll nie aufhören zu suchen, bis dass er findet. Wenn er gefunden hat, wird er ratlos sein. Ist er ratlos, wird er staunen und die Welt beherrschen."
2. Logion 17:
"Was kein Aug' gesehen, was kein Ohr je gehört, was keine Hand je berührte, in kein Menschenherz drang: Das will ich euch geben."
3. Logion 8:
"Der Mensch gleicht einem klugen Fischer, der sein Netz ins Meer warf. Und er zog es aus dem Meere, voll mit kleinen Fischen. Mitten unter ihnen fand er einen großen, guten Fisch, der kluge Fischer. Da warf er alle kleinen Fische zurück ins Meer und wählte, ganz ohne zu zögern, allein den großen Fisch. – Wer Ohren hat zu hören, der höre!"
4. Logion 66 :
"Zeig mir den Stein, den die Bauleute verworfen haben! Das ist der Eckstein! Zeig mir diesen Stein!"
5. Logion 47 :
"Es ist unmöglich, dass ein Mensch auf zwei Pferden reitet, und es ist unmöglich, dass einer zwei Bogen spannt. Es ist unmöglich, dass ein Knecht zwei Herren diente. Er wird den einen ehren und wird den andern verlachen. Niemand trinkt alten Wein und will sofort neuen Wein.
Und keiner gießt neuen Wein in einen alten Schlauch, dass er ihn nicht sprengt. Und man gießt nicht alten Wein in einen neuen Schlauch, dass er nicht verdirbt! Man setzt nicht einen alten Lappen auf ein neues Kleid, sonst gibt es einen Riss."
6. Logion 50 :
"Wenn sie euch fragen: Woher kommt ihr?, sagt zu ihnen: Wwir sind aus dem Licht, da wo es aus sich selbst hervorgeht. Es stand, und wurde kund in seinem Bild. Wenn sie Euch fragen: Wer seid ihr?, so sagt ihnen: Wir sind seine Söhne, vom lebend`gen Vater gerufen. Wenn sie fragen: Welches Zeichen eures Vaters? so sagt Ihnen: Bewegung und Ruhe."
FRAGMENT V
(Valentinus)
Ich schaue: Alles hängt am Geiste!
Ich erkenne: Alles fährt im Geiste dahin.
Fleisch hängt an Seele,
Seele hängt an Hauch
Hauch hängt an Glanz.
Aus der Tiefe kommen Früchte,
aus dem Schoße kommt ein Kind.
FRAGMENT II
(Joh. II, 1 – 11)
Et die tertia nuptiae factae sunt in Cana Galilaeae: et erat mater Iesu ibi.
Vocatus est autem et Iesus, et discipuli eius ad nuptias. Et deficiente vino, dicit mater Iesu ad eum: Vinum non habent. Et dicit ei Iesus: Quid mihi, et tibi est,
mulier? nondum venit hora mea. Dicit mater eius ministris: Quodcumque dixerit vobis, facite. Erant autem ibi
lapideae hydriae sex positae secundum purificationem Iudaeorum, capientes singulae metretas binas vel ternas. Dicit eis Iesus: Implete hydrias aqua. Et impleverunt eas usque ad summum. Et dicit eis Iesus: Haurite nunc, et ferte architriclino. Et tulerunt. Ut autem gustavit architriclinus aquam vinum factam, et non
scievat unde esset, ministri autem sciebant, qui hauserant aquam: vocat sponsum architriclinus, et dicit ei : Omnis homo primum bonum vinum ponit: et cum inebriati fuerint, tunc id, quod deterius est: Tu autem servasti bonum vinum usque adhuc. Hoc fecit initium signorum Iesus in Cana Galilaeae.
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- Themen in diesem Beitrag
- Hans Zender, Logos - Fragmente für 32 Singstimmen und drei Orchestergruppen
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