Ich möchte hier einige praktische Folgerungen zur Sprache bringen, die aus dem – immer noch unterschätzten – Aufeinanderprallen ästhetischer Ansprüche und der Herrschaft der verdinglichten Vergangenheit im allgemeinen Kunstbetrieb entstehen.Ich habe nicht im Geringsten vor, zu dieser Frage mit Polemik oder mit Manifesten Stellung zu nehmen, naive Symptome austauschbarer Wahrheiten, bald zu simpel und unnütz erscheinend, ohne überzeugenden Vorteil. Dieser Kommentar hier versucht nicht zu moralisieren. Er versucht nicht das Erstrebenswerte zu benennen, noch nicht einmal das zu Bevorzugende. Er möchte die Dinge einfach so nennen wie sie sind..
Die geschichtliche Frage
Das kompositorische Werk – einerseits bewusste Verwirklichung einer Notwendigkeit seiner Zeit und andererseits Form von Unabhängigkeit von kommerziellem Zwang – steht heute dem Konsum der gesamten kulturellen Vergangenheit gegenüber. Diese spezielle Situation ist neu. Selbst die Renaissance und ihr museales Gefolge konnten Vergangenes und Gegenwärtiges nicht annähernd so zugespitzt gegenüberstellen.
Die Menschen gleichen mehr ihrer Zeit als ihren Vorfahren. Nichtsdestoweniger steht es außer Frage, frei eine Position zwischen den beiden geschichtlichen Polen zu wählen (denn auch die Gegenwart ist Geschichte, aber eine noch zu Schreibende, also momentan noch leicht zu Manipulierende), vielmehr gilt es, die Dialektik der historischen Gesamtheit und des einzelnen Werks abzuhandeln. Wohl verstanden, erfordert dieses Bewusstsein nicht, sich einem obskuren Glauben beziehungsweise irgend einem evolutionären Modell im künstlerischen Bereich zu beugen.
Sich heute der Dialektik zuzuwenden, in einer Zeit der digitalen Maschinen, ist eine wenig geruhsame Form des Lebens, gefährlich die Fähigkeit zur kritischen Analyse herausfordernd: die binäre Sprache des Computers ist ein unwiderstehlicher Anreiz, in jedem Moment und ohne Wenn und Aber zuzulassen, was von jemand Anderem programmiert wurde, wie man es wollte, und Verzicht für die zeitlose Quelle einer übergeordneten Logik zu leisten, ungeteilt und total.
Die Frage der Totalität
Die französische Revolution zog große Veränderungen der Kriegskunst nach sich. Aufgrund dieser Erfahrung konnte Clausewitz eine grundsätzliche Unterscheidung begründen, nach der die Taktik die Verwendung der Kräfte in einer Schlacht wäre, um den Sieg zu erreichen, dagegen die Strategie die Verwendung der Siege wäre, um die Ziele des Kriegs zu erreichen. In gleicher Weise hat Komponieren weniger mit Taktik als mit Strategie zu tun: Die Wahl der Mittel weicht dem zuvor existierenden Bewusstsein von Lösungen; die Expressivität der Auseinandersetzung verändert die Umgebung. Die Dimension des völligen Ausschöpfens, die darin bestünde, alle möglichen Lösungen für ein bestimmtes Problem in Betracht zu ziehen, müsste zur Ratlosigkeit (und deren theoretischem Spiegelbild, der Melancholie) führen, angesichts eines unumgänglichen, definitiven Statuts.
Außerdem hat ein solcher Anspruch als Nebeneffekt die interessante Fähigkeit, dort Fragen zu stellen, wo man gemeinhin nur Antworten erwarten würde. Offensichtlich bricht eine solche intellektuelle Haltung in dem Moment mit dem Standard, wo das Individuum sich fortwährend verleugnen muss, wenn es in der Gesellschaft ein wenig wahrgenommen werden soll.
Wie sagt Baltasar Gracißn, ein großer Geschichtskenner, ganz richtig im L'Homme de cour:
"Sei es die Aktion, sei es die Rede, alles muss an der Zeit gemessen werden. Du musst wollen, wenn Du kannst, da weder Zeitalter noch Epoche auf Dich wartet."
- Festivaljahrgänge
- Donaueschinger Musiktage 2000
- Themen in diesem Beitrag
- Brice Pauset, Adagio Dialettico für Saxophon, Klavier und Schlagzeug
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