"Ich verspreche Ihnen ein Märchen, durch das Sie an nichts und an alles erinnert werden sollen. Zugleich bedeutend und deutungslos..."
Goethe, Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1794/95)
"Mort et vie de la mort" für großes Orchester von Emmanuel Nunes ist im Umfeld seiner Oper Das Märchen (nach Goethe, 2002/2007) entstanden. Aus der knapp siebenhundert Seiten umfassenden Partitur der Oper (mit einer Dauer von über dreieinhalb Stunden) wählte Emmanuel Nunes für "Mort et vie de la mort" 41 Abschnitte, Fragmente, die sich von der verpflichtenden dramaturgischen Abfolge der Ereignisse in der Oper befreien, um sie hier nun in drei Sätze unter drei Leitbegriffe zusammenzufügen: das Begehren, das Wort und den Tod. Die Auswahl der Abschnitte folgt Teilen der Partitur, denen diese Themen bereits in der Oper zugrunde liegen. Abschnitte, zwischen denen in der Oper große zeitliche Abstände liegen und die sich in verschiedenen Tableaux, Szenen oder sogar Aufzügen abspielen, werden in "Mort et vie de la mort" in unmittelbarer Nähe präsentiert. Solche Abschnitte fungieren nun als Mitglieder einer von drei "Konzeptgemeinschaften", Mitglieder, die hier zusammentreffen und untereinander neue, überraschende Beziehungen hervorbringen. Mort et vie de la mort kann somit als eine Art sorgfältig gewonnenes Destillat aus drei zentralen – wie immanenten – Begriffen der Oper Das Märchen verstanden werden. Das diesem Verfahren innewohnende Prinzip der "Montage" (in fast kinematographischem Sinne) wurde hier jedoch nicht mechanisch ausgeführt, sondern durch etliche Veränderungen der ursprünglichen Abschnitte feiner (um)gestaltet – so etwa durch die Eliminierung sämtlicher Gesangspartien (Soli- wie Choreinsätze), eine neue Gestaltung der Tempi, und z.T. einige subtile Veränderungen der Dynamik und der Instrumentierung. Durch die getroffene Auswahl der Abschnitte entsteht eine höchst konzentrierte Musik, die, mehr als "das Neue", neue Möglichkeiten der "Wahrnehmung" von Musik hervorruft. Die Komplexität dieser Partitur spiegelt die Komplexität der gesamten Oper Das Märchen, die wiederum der Komplexität des schwer interpretierbaren Textes von Goethe entspricht. Eine musikalische Komplexität, die durch ihre Durchsichtigkeit besticht, die greifbar wird und sich niemals in einer sich selbst zelebrierende Flut von Spielangaben bzw. von akustischen Ereignissen verliert.
In den 15 ineinander fließenden Abschnitten von "Le désir / Das Begehren" steht die Suche nach Vollkommenheit, nach einem existentiellen Gleichgewicht, im Vordergrund – aber auch das Streben nach Gold (die Irrlichter und die Schlange), nach der verlorenen Schönheit (die Alte) oder nach der Liebe (Lilie); die 14 Abschnitte von "La parole / Das Wort" konvergieren in der Thematik der Verpflichtung, der Versprechung, der Verbindlichkeit und der Verantwortung; die 12 Abschnitte von "La mort / Der Tod" schließlich beschäftigen sich mit dem Sterben: die Unfruchtbarkeit der schönen Lilie, die Fäulnis der Leiche des Prinzen, seine vorherige betrübte Existenz, das Sterben des Kanarienvogels und des Mops, der Tod des Prinzen und das Opfer der grünen Schlange. Es geht aber bei Emmanuel Nunes, wie im Titel dieses Werkes impliziert, nicht um das physische Sterben, sondern um etwas ganz anderes, etwa im Sinne von Jakob Böhmes Satz: "Wer nicht stirbt, bevor er stirbt, der verdirbt, wenn er stirbt". Oder, wie Goethe es im Diwan formuliert hat: "Und solang du das nicht hast, dieses: ‚Stirb und werde!' bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde."
Als Goethe gegenüber Schiller den Wunsch äußerte, mit "Das Märchen" die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten abzuschließen, betonte er, dass "es vielleicht nicht übel wäre, wenn sie durch ein Produkt der Einbildungskraft gleichsam ins Unendliche ausliefen". Die in Goethes Erzählung implizite Öffnung und Offenheit zum Unendlichen wird in der Oper von Emmanuel Nunes unterstrichen und in weiteren Stücken im Umkreis der Oper weitergeführt und entwickelt – wie in den drei "Épures du Serpent Vert" für großes Ensemble (Nr. 1, 2004; Nr. 2, 2005/2006; Nr. 4, 2007), in "La main noire" für drei Bratschen (2007) und jetzt auch in "Mort et vie de la mort". Es ist jedoch allem voran der Umfang, die unerschöpfliche Größe der vorhandenen Symbolik des Textes von Goethe, die sich in Nunes Musik exemplarisch darstellt.
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- Themen in diesem Beitrag
- Emmanuel Nunes, Mort et vie de la mort - Des Todes Tod und Leben für großes Orchester
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