Für Streichquartett zu komponieren, war mir immer eine ganz besonders große Freude, und seit 1982 mache ich mir diese Freude auch regelmäßig, immer in freundschaftlicher Zusammenarbeit mit dem Arditti Quartet. Für eine solche Besetzung zu schreiben – die heute im musikgeschichtlichen Sinn keine Gattung mehr ist –, gibt mir immer wieder neu die Gelegenheit, über die Formen nachzudenken (und in diesem Zusammenhang ist das Wort nicht als Metapher gemeint), auf die ich Lust habe oder nach denen mein Ehrgeiz strebt, und zwar für all meine Kompositionen. In diesem Sinne würde es sich eher um ein Prinzip der Brechung handeln: Das Streichquartett bietet mir die Möglichkeit – so wie ein Lichtstrahl gebrochen wird, wenn er von einer Umgebung zur nächsten kommt –, das komplette Material meiner Arbeit divergieren zu lassen. Es gibt zahlreiche heimliche Verbindungen zwischen meinen Streichquartetten, meiner symphonischen Musik oder sogar den Opern. Das Streichquartett nimmt somit die Gestalt einer Art von "Hinterland"* voller Anspielungen und Parabeln an, in dem verworrene, zusammengesetzte, komplexe musikalische Welten sich ausdrücken und strömen können.
Wie aber kann das Streichquartett, das in der historischen Entwicklung der Musik als die reinste Konkretisierung von Form betrachtet wird, auf den skurrilen Einfall kommen, sich mit einem Symphonieorchester auszustaffieren – oder vielleicht auch zu belasten? Um zum Konzert zu werden? Aber was ist heutzutage ein Konzert? Eine musikalische Form, in der ein Einzelner und ein Ganzes einander in Opposition, Konfrontation und Kampf gegenüberstehen? Was soll daraus resultieren? Was soll damit gesagt werden?
Beim Nachdenken über diese "unmögliche" Form habe ich mich entschlossen, dieses Quartett mit Orchester in die Reihe meiner Streichquartette (bis heute sind es sieben) zu integrieren. Darum trägt es den Titel Quatuor VI mit dem Zusatz "Hinterland". Ein "Hapax" bezeichnet dagegen in der Rhetorik das, was nur ein einziges Mal vorkommt.
Es ist also wenig wahrscheinlich, dass ich ein weiteres Streichquartett mit Orchester schreiben werde…
Wenn man ein Streichquartett gegenüber (oder genauer gesagt: vor!) einem Symphonieorchester aufstellt, kommt man um ein paar strategische Fragen nicht herum. Ich musste aus dem Orchester etwas Ballast abwerfen, denn die Position des Quartetts – vor dem Dirigenten – ist für eine ausgewogene Akustik nicht vorteilhaft. Aus diesem Grund habe ich mich entschlossen, Trompeten und Posaunen wegzulassen und mich auf ein Orchester mit Holzbläsern, Hörnern, Harfen und klein besetzten Streichern zu konzentrieren.
Die Konzeption dieses Stücks ist als geschlossenes Ganzes entstanden; ich habe mich nicht an der Form des Concertante orientiert und auch nicht versucht, durch den Einsatz irgendeiner fiktiven Konfrontation, Parteien einander gegenüberzustellen. Allerdings ist schon allein die Positionierung eines Streichquartetts gegenüber einem Orchester ausreichend für die Entstehung eines dialektischen Systems. Auge in Auge scheinen Orchester und Streichquartett sich recht zu mühen, miteinander zu koexistieren, denn nichts klappt jemals so gut, wie sie es hoffen.
Entscheidungen des einen sind oft grundsätzlich verschieden von denen des anderen. Es kommt vor, dass ihre Wege sich trennen, dass das Material des einen in eine Richtung wächst, während das andere über Abkürzungen zu ihm hin vorstößt. Viermal unternimmt das Streichquartett allein etwas, das ich den Versuch des Aufbrauchens nenne, in dem das Material kondensiert, fast eingestampft wird, um dann anderswo wieder eine neue Entwicklung zu nehmen. Jeder der beiden Protagonisten dieses kleinen musikalischen Abenteuers wird auf gewisse Weise zum Hinterland des anderen. Das Quatuor VI benimmt sich wie ein Dispositiv, das musikalische Substanz zwischen zwei verschiedenen Umgebungen transferiert. Jede der beiden Parteien bringt die andere in Bewegung – als ob die eine der Traum der anderen wäre.
Auftrag des Luzerner Sinfonieorchester und des Arditti Quartet, der Donaueschinger Musiktage, der Casa de Musica de Porto und des Festivals Wien Modern.
Die Uraufführung fand am 28. und 29. April 2010 mit dem Luzerner Sinfonieorchester und dem Arditti Quartet unter der Leitung von Jonathan Nott im KKL in Luzern statt
Quatuor VI ist Florence Darel zur Geburt von Anton gewidmet.
* im Original deutsch
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- Donaueschinger Musiktage 2010
- Themen in diesem Beitrag
- Pascal Dusapin, Quatuor VI: Hinterland Hapax für Streichquarett und Orchester
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