Donaueschinger Musiktage 2015 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2015: "AST" für Kammerensemble, 32 selbstspielende Maschinen, Live-Elektronik und Zuspielung

Stand
Autor/in
Orm Finnendahl

Musiker und Maschinen

In den vergangenen Jahren stand in meiner Arbeit die Auseinandersetzung mit der Autonomie der Interpreten im Vordergrund. Ich suchte nach anderen, am open source Gedanken orientierten Modellen der Zusammenarbeit und Mitwirkung der Interpreten am Entstehungsprozess, insbesondere auch unter Einbeziehung technologischer Möglichkeiten wie Live-Elektronik.

All dies ist auch in "AST" präsent: Das Kammerensemble verwendet eine vernetzte Live-Elektronik, es gibt durchkomponierte Teile, aber auch hybride, mit den Interpreten gemeinsam erarbeitete Passagen mit improvisierten Elementen und teilweise variablen Lautsprecherzuspielungen.

Zusätzlich werden in der Komposition 32 im Raum verteilte und für diese Aufführung eigens entwickelte elektromechanische Schlaginstrumente verwendet. Dies hat mit meiner langjährigen Faszination für Roboter zu tun, die an der Schnittstelle von Autonomie und Automation agieren und damit viele Fragen zum Verhältnis der Interpreten auf der Bühne und den selbstspielenden und zugleich ferngesteuerten Apparaturen und ihrer jeweiligen Identität aufwerfen. Insbesondere in einem auf Expressivität ausgelegten Konzertzusammenhang fühle ich mich von der körperlich präsenten Manifestation vermeintlich handelnder Maschinen außerordentlich provoziert und angeregt.

Bei der Konzeption der Instrumente stand dabei nicht eine hochdifferenzierte und ausgewogene klangliche Ausformung im Vordergrund. Ganz im Gegenteil geht es vielmehr um die auch szenische Konfrontation der Charakteristika eines vergleichsweise rohen und primitiven automatisierten Instrumentariums mit einem klanglich hochdifferenzierbaren Kammerensemble, das maßgeblich von den Interpreten geprägt wird. Zu dieser Konfrontation zählt auch das kompositorische Ausloten der Möglichkeiten ihrer Verknüpfungsformen (Gegenüberstellung, Ergänzung, Angleichung/Vermischung), vor allem auch im Hinblick auf deren rezeptionsästhetische Konsequenzen und auf Fragen zur Autonomie und wechselseitigen Abhängigkeit aller Beteiligten. Maschinen haben in diesem Zusammenhang als Symbol der Technisierung für mich eine repräsentative Funktion. Zugleich sind sie aber auch konkret als Akteure anwesend und haben eine körperliche, physische Präsenz.

Zur Maschinenwelt habe ich dabei ein durchaus emotionales Verhältnis – im Positiven wie im Negativen: Seitdem ich denken kann, faszinieren mich Mechaniken, insbesondere diejenigen, die sich reproduzieren und dadurch Illusionen und Sinnestäuschungen erzeugen. Als Kind habe ich in Einschlafphasen immer wieder Perpetuum Mobiles erfunden, war im halbwachen Zustand felsenfest von ihrer Realisierbarkeit überzeugt oder stand stundenlang vor Dreifachklappspiegeln und konnte mich an deren visuellen Rekursionen nicht sattsehen. Zugleich hatte die Unerbittlichkeit maschineller Abläufe und die imaginierte Extrapolation der Konsequenzen ihrer Vervielfältigungen aber immer auch etwas Bedrohliches. Auch in der mittlerweile langen Tradition der Auseinandersetzung mit dem Maschinellen und Mechanischen in der Kunst sind diese Vorstellungen häufig mit dem Traumhaften verknüpft, das der mechanischen Logik den Schwindel, das Irreale und Albträume gegenüberstellt, das aber auch mit Unendlichkeitsvorstellungen oder Wünschen verbunden ist, von denen man schon als Kind, gerade auch im Traum, ahnt, dass sie unerfüllbar sind, ohne dass sie dadurch weniger attraktiv wären.

Für musikalische Entsprechungen solcher Formen habe ich – oft gerade auch wegen ihrer Abgegriffenheit – eine große Schwäche: Shepard Skalen, Droste- und Moiré-Effekte, Kanons, Fraktale. Dabei werden diese Prozesse häufig durch eine live-elektronische Verarbeitung ergänzt, die Kopien musikalischer Abläufe nach bestimmten Regeln zeitversetzt wieder in die Komposition einfließen lässt. Auch in "AST" gibt es solche Formverläufe. Es gibt Wiederholungen immer wieder gleicher prozessualer Entwicklungen, die damit verbundenen Sehnsüchte und Illusionen, das Leerlaufen, aber auch den Aspekt des Wucherns mit damit verbundenen Phantasmagorien, (Alb)Träume und Übergänge von sehr strengen und distanzierten Phasen zu freieren, von den Interpreten improvisatorisch ausgestalteten Gebilden. Mehrfach werden sogar diesbezügliche Ausschnitte aus zum Teil sehr alten eigenen Kompositionen aufgegriffen und in einen neuen Kontext gestellt.

Betrachtet man das Mechanische als einen fremdbestimmten Prozess, der die Musiker mit den automatisiert verselbstständigten Konsequenzen ihres Handelns wieder konfrontiert, so verändert sich die Perspektive zusätzlich, sobald Maschinen ins Spiel kommen: Musiker auf einer Bühne sind für mich immer identifikatorisch besetzt; sie handeln stellvertretend für mich oder für den jeweiligen Beobachter im Publikum. Menschliche Handlung ist für den (menschlichen) Beobachter vermutlich unausweichlich mit der Unterstellung von Intention verknüpft. Bei Maschinen wird es kompliziert, da ich mich mit ihnen nicht identifizieren kann, ihre Aktionen aber durchaus Intentionen implizieren können. Insofern bestand der Reiz eines Großteils der kompositorischen Arbeit an "AST" in der Reibung mit den vielen Implikationen und Widersprüchen, die eine solche Zusammenstellung erzeugt. Was für eine Funktion haben die Maschinen in Bezug auf die Interpreten? Sind sie klangliche Erweiterung? Zerstören sie musikalische Prozesse, unterbrechen sie die Musiker, werden sie unterbrochen? Was bedeutet Wechselbeziehung in einem solchen Zusammenhang? Wer handelt? Was beeinflusst einander?

Es gibt ein sehr populäres Buch des Künstlerpaares Fischli und Weiss mit dem Titel Findet mich das Glück?. Das kleine Buch findet man in Kunstbuchhandlungen an der Kasse, ungefähr dort, wo im Supermarkt die Süßigkeiten für die Kinder drapiert werden. Wer es noch nicht kennen sollte: Das Buch besteht aus einer Sammlung von Fragen, eine auf jeder Seite, von Hand mit weißer Farbe auf dunkelgrauen Hintergrund geschrieben. Es gibt Fragen, wie "Verbummle ich mein Leben?", "Ist Hunger ein Gefühl?", "Steht der Wahnsinn vor der Tür?", "Kann ich meine Unschuld wiederherstellen?" oder "Sucht mich das Glück am falschen Ort?"

Ich hatte bei der Arbeit an dem Stück häufiger den Eindruck, dass einige Fragen, die mir von Freunden gestellt wurden oder die sich mir selbst stellten, eigentlich auch in diesem Kontext gut aufgehoben wären:

Was würden die Maschinen dazu sagen?
Handelt es sich um eine große Maschine oder sind es viele kleine Maschinen?
Sollen die Maschinen die Musiker zur Ordnung rufen?
Fühlen sich die Maschinen im Konzert beobachtet?
Sind Maschinen musikalisch?
Wollen die Musiker etwas von den Maschinen, oder ist es umgekehrt?
Verwirklichen sich die Interpreten?
Was suchen die Maschinen auf der Bühne?

Zum Titel

Der Titel bezieht sich – in seiner deutschen Wortbedeutung als selbstreferentielles Pars pro Toto – auf die englische Abkürzung des Begriffs "abstract syntax tree". Dieser Fachbegriff aus der Informatik bezeichnet die formalisierte Darstellung eines Programmablaufs, die in meiner kompositorischen Praxis eine große Rolle spielt: Solche Syntaxbäume werden in meiner Arbeit am Computer zur Herstellung von Formabläufen verwendet, die immer wieder in sich selbst überführt werden und damit einen sehr eigenwilligen und mich sehr faszinierenden klanglichen Beziehungsreichtum entfalten.

Danksagung

Die Komposition ist durch die Integration von Instrumentalklang, Maschinen, Live-Elektronik, Zuspielungen, Komposition und Improvisation auch eine Hommage an das Ensemble Mosaik. Sie ist ein Ergebnis unserer langjährigen Zusammenarbeit, in der ich Arbeitsformen erproben konnte, die im normalen Konzertbetrieb nicht realisierbar sind und die meine künstlerische Entwicklung entscheidend geprägt und vorangebracht haben.

Ein weiterer großer Dank geht an Hans Hübner und Jan Baumgart, die eine maßgebliche Rolle bei der Entwicklung und dem Bau der Maschinen und ihrer elektronischen Steuerung hatten.

English

Musicians and Machines

In recent years, my work has focused on engaging with the autonomy of performers. I looked for alternative models for performers collaborating and participating in the process of creation, oriented on the basis of ideas from open source, especially using the technological possibilities of live electronics.

All of this is present in "AST": the chamber ensemble uses networked live electronics, there are through-composed parts, but also hybrid passages with improvised elements generated together with the performers, and in part, variable speaker music.

In addition, the composition also uses 32 electro-mechanical percussion instruments, developed especially for this performance, which are distributed around the room. This is due to my many years of fascination with robots that act at the intersection between autonomy and automation, and thus raise many questions about the relationship between the performers on stage and the performing and yet controlled apparatuses and their respective identities. In particular, in a concert focused on expression, I feel extremely provoked and inspired by the physically present manifestation of supposedly acting machines.

In conceiving the instruments, a highly differentiated and balanced configuration was not at the foreground. Quite the contrary, at issue instead is the scenic confrontation of the characteristics of a comparatively raw and primitive automatized group of instruments with a highly differentiated chamber ensemble, which is decidedly shaped by the performers. This confrontation includes the compositional exploration of possibilities of their forms of linkage (opposition, complementing, harmonization/mixing), especially in terms of their consequences in terms of an aesthetics of reception and questions of autonomy and the mutual dependence of all those involved. For me, in this context, machines have a representative function as a symbol of technologization. At the same time, they are concretely present as actors and have a physical, corporeal presence. 

I have quite an emotional relationship to the world of machines, in a positive and a negative sense: ever since I was able to think, I have been fascinated by machines and mechanical devices, especially those that reproduce and can generate illusions and sensory deceptions.

As a child, I used to invent perpetual motion machines while going to sleep, and in a semi-wake state was convinced of their practicability. I stood for hours in front of folding mirrors and could not get enough of their visual recursions. At the same time, the mercilessness of mechanical processes and the imagined extrapolation of consequences of their multiplication always had something threatening about them. In the now long tradition of engaging with machines and the mechanical in art, these notions are often linked with the dream-like (which is opposite the mechanical logic of deception), with the unreal, or nightmares, but are also linked to ideas of infinity or wishes that one already suspected in childhood were unfulfillable, though this made them no less attractive.

I have a great weakness for musical equivalents of such forms, precisely because of their hackneyed character: Shepard scales, Droste and Moiré effects, canons, fractals. And these processes are frequently only complemented by a live-electronic processing that allows copies of musical processes to flow back into a composition according to certain rules at a delay. "AST", too, features such formal processes. There are repetitions of developments that repeat over and over, the longings and illusions, idling, but also aspects of sprawling growth and the linked phantasmagoria, nightmares and dreams, and transitions of very strict and distanced phases to freer structures, shaped in improvisation by the performers. Several times over, passages such as these are picked up from sometimes very old compositions and placed in a new context.

Considering the mechanical as a process controlled from the outside that confronts the musicians with the automated results of their action, taking on a life of their own, the perspective changes once machines come into play: musicians on a stage are for me always occupied in terms of identification – they either act for me or for the observers in the audience.

Human action is for the (human) observer unavoidably linked to the ascription of intent. With machines, things get complicated, since I cannot identify with them, but their actions can certainly imply intentions. To that extent, the charm of much of the compositional work on AST consisted in the friction between the many implications and contradictions that such a combination generates. What function do machines have in relationship to performers? Are they their sonic expansion? Do they destroy musical processes, interrupting the musicians, are they interrupted? What is the meaning of a mutual relationship in such a context? Who acts? What agents influence one another?

There is a very popular book by the artist couple Fischli and Weiss with the title Will Happiness Find Me?  The small volume can be found at art bookstores around the world at the cashier, which is like the place in the supermarket where the sweets are displayed for the children. For those who don't know it: the book consists of a collection of questions, one on each page, written by hand with white paint on a dark gray background. There are questions like "Am I wasting my life?" "Is hunger a feeling?" "Is madness around the corner?" "Can I regain my innocence?" "Is happiness looking for me in the wrong place?"

In working on this piece, I frequently had the impression that several questions that have been posed by friends or that I posed myself would be fitting in this context:

What would the machines say about this?
Is it one large machine or many small machines?
Should the machines call the musicians to order?
Do the machines feel observed during the concert?
Are machines musical?
Do the musicians want something from the machines, or is it vice-versa? 
Do the performers actualize themselves in performance?
What are the machines looking for on stage? 

On the Title

The title refers to the abbreviation of the term "abstract syntax tree". This term from informatics refers to the formalized depiction of a program that plays an important role in my compositional practice. Such syntax trees are used in my work at the computer to create forms that lead back recurrently to themselves and thus develop a unique — and for me very fascinating — wealth of sonic relations.

Acknowledgements

This composition, with the integration of instrumental sound, machines, live-electronics, playback, composition, and improvisation, is also intended to pay homage to ensemble mosaik. It is the result of our many years of collaboration, in which I could explore forms of work that would not by realizable in the normal concert life, and that has decisively shaped and advanced my artistic development. Additional thanks go to Hans Hübner and Jan Baumgart, who played a decisive role in developing and constructing the machines and their electronic control mechanisms.

Stand
Autor/in
Orm Finnendahl