Welche Klangwelten herrschten in der Klosterkirche von Cluny, der größten Kirche des Mittelalters? Die Universität Tübingen und die Technische Hochschule Aachen geben Antworten: Heute kann man verloren gegangene Kirchenräume virtuell wieder hörbar machen. Ein musikhistorisches Klangexperiment mit dem Ensemble Ordo Virtutum unter der Leitung von Stefan Morent.
Das imposanteste Gotteshaus des Mittelalters
Im Mittelalter zählte die Benediktinerabtei von Cluny zu den einflussreichsten religiösen Zentren Europas. Das 910 gegründete Kloster stand direkt unter dem Schutz des Papstes, wurde zum Mittelpunkt eines Klosterverbundes mit über 20.000 Mönchen und zum Ausgangspunkt weitreichender Reformen innerhalb der westlichen Kirche des Mittelalters.
Die hohe Bedeutung Clunys zeigte sich auch in seiner Architektur: Die romanische Klosterkirche, 1130 von Papst Innozenz II. geweiht, war ein Monumentalbau mit einem fünfschiffigen Langhaus, zwei Querhäusern und einer Vorkirche mit zwei Westtürmen.
Bis zum Bau des Petersdoms in Rom (1626 geweiht) war Cluny das größte Gotteshaus der Christenheit. Dann wurde das Kloster zum Opfer der Französischen Revolution: Von der mittleren Vierung ist lediglich der Südflügel stehen geblieben. Alles andere wurde in der post-napoleonischen Ära abgerissen.
Die Dokumentation im SWR Fernsehen
Wie klang die Musik von Cluny?
Als überregionales Glaubenszentrum war Cluny auch ein bedeutendes liturgisches und kirchenmusikalisches Zentrum des Mittelalters. Doch wie mag die Musik in der immensen Kirche geklungen haben? Die Universität Tübingen und die Technische Hochschule Aachen gehen dieser Frage nach.
Man kann die verloren gegangenen Kirchenräume heutzutage virtuell wiederherstellen – auch ihre Akustik. Auralisation heißt dieses Verfahren zur Simulation des Klangs eines Raumes.
Das Ensemble Ordo Virtutum hat im Südflügel der Ruine von Cluny und im akustischen Labor in Aachen ein Offizium, Gesänge für das Stundengebet, aus dem Mittelalter aufgezeichnet, mit dem Klang der ursprünglichen Kirche und einer virtuellen Rekonstruktion.
Höreindruck: Ensemble „Ordo Virtutum“ singt in der Klosterkirche von Cluny
Sakrale Musik im Mittelalter entstand unter Berücksichtigung des Raumklangs
Nach jahrelanger Vorbereitung wurden Aufnahmen mit den 6 Sängern des Ensembles Ordo Virtutum in Frankreich möglich. Das Musée National du Moyen Age im burgundischen Cluny erklärte sich zur Kooperation bereit.
Es ist sicher, dass Kompositionen im 12. Jahrhundert im Bewusstsein entstanden sind, dass ein solcher Raum mitklingt. Der große Konvent mit hunderten von Mönchen brauchte Platz für Liturgie und Prozessionen, und der Raumklang war Teil davon. Das heißt Architektur und Musik standen in Wechselwirkung miteinander.
Dem kann man bei einer neuen Aufnahme nur gerecht werden, indem man den historischen Raum einbezieht. Stefan Morent (Lehrstuhl für Digitale Musikwissenschaft und Musik vor 1600 an der Universität Tübingen) initiierte das Forschungsprojekts „Sacred Sound“ und ist künstlerischer Leiter der Produktion in Cluny:
„Die Mönche sind wieder auferstanden“: Musikredakteurin Anette Sidhu-Ingenhoff im Gespräch
Forschungsprojekt erforscht den Klang vergangener Kirchenräume
Im Forschungsprojekt „Sacred Sound – Sacred Space“ („Sakraler Klang und Raum“) arbeiten verschiedene Disziplinen zusammen: Musikwissenschaftler*innen, Akustiker*innen und Fachleute für Digital Humanities. Auch der SWR ist Partner in diesem Projekt.
Die Frage lautet: Welche Beziehungen lassen sich ableiten zwischen liturgischen Formen, religiöser Erfahrung und sakralen Raumkonzepten. Und welche Rolle spielt die Architektur für Musik, die für diesen Raum geschrieben wurde?
Die Musikwissenschaft erhofft sich hier Rückschlüsse auf die Interpretation und neue Perspektiven für die historisch informierte Aufführungspraxis.